Donnerstag, 26. April 2012

Fortschritt als Kategorie der Politik






Vor hundert Jahren und ein paar Tagen ist die Titanic gesunken. Reihum wurde aus Anlass des Ereignissesüber den Fortschritt, seine Macht, seine Möglichkeiten und seine Folgen diskutiert. Die Diskussion war freilich nahezu ausschließlich auf den technischen Fortschritt beschränkt. Der ist relativ einfach messbar. Schneller, weiter, höher, billiger sind gemeinhin die Messlatten, die angelegt werden. Fortschrittlich zu sein, gilt in dieser Hinsicht als stetes Ziel, um voranzukommen.

Die Gesellschaft, zumal die Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, hat sich in dieser Hinsicht nichts vorzuwerfen, allenfalls muss man sich fragen lassen, ob man nicht bereits zu weit gegangen sei und was alles noch möglich ist.

In anderen Bereichen, in denen der Fortschritt im Sinn von Weiterentwicklung, Verbesserung und Beseitigung von unbefriedigenden Umständen durchaus auch eine Kategorie ist, stellen sich solche Fragen kaum. Die Politik ist ein solcher Bereich. Dort scheint Fortschritt als Ziel in den letzten Jahren kein Thema mehr zu sein. Allenfalls, wenn es darum geht, den technischen Fortschritt zu unterstützen und voranzutreiben, spielt er dort eine Rolle. Die Weiterentwicklung der Politik selbst und der politischen Instrumente scheint als Ziel verloren gegangen zu sein. Ganz im Gegenteil: Gerade die jüngste Vergangenheit brachte deutliche Rückschritte.

Typisch dafür sind die Entscheidungsstrukturen, die in der Europäischen Union im Zug der Bekämpfung der Eurokrise eingerissen sind. Dort haben längst die Regierungschefs das Heft an sich gerissen und machen sich abseits des Europäischen Parlaments, aber auch abseits der nationalen Vertretungen aus, was sie für richtig halten. Die Not heiligt die Mittel, heißt es da unverhohlen. Unter Zeitdruck kommt die Demokratie unter die Räder. Ihre Instrumentarien und Institutionen werden zu Abstimmungsmaschinen degradiert, die Abgeordneten als willfähriges Stimmvieh missbraucht. Nach Formen, die es ermöglichen, auch unter großem Druck demokratische Prozesse beizubehalten, hat man erst gar nicht gesucht. Auch nicht die österreichischen Regierungsspitzen. Das Sparpaket wurde in einem atemberaubenden Tempo durchs Parlament gepeitscht, um erst gar keine Fragen aufkommen zu lassen, Einwände von Abgeordneten wurden sicherheitshalber gleich im Vorfeld von der Parteimaschinerie plattgemacht.

Schlimm genug. Noch schlimmer, dass all das noch als Zeichen für erfolgreiches, zielorientiertes Handeln abgefeiert wurde. Die Abgeordneten "im Griff zu haben“, gilt einem Klubobmann als höchste Auszeichnung.

Verwundern sollte diese Entwicklung freilich nicht. Während in vielen Teilen dieser Welt nach wie vor Menschen sehr viel auf sich nehmen und sogar ihr Leben einsetzen, um auch in der Politik ihrer Länder Fortschritte zu erwirken, ließ sich das Gros der Bewohner der Industrieländer geradezu mit Wonne und wohl auch der Einfachheit halber politisch entmündigen. Man nahm Entwicklungen hin, obwohl man nicht immer einverstanden war damit, man gab Parteien wider besseren Wissens die Stimme, man sagte nichts und applaudierte höflich. Hauptsache Ruhe, ein halbwegs sicherer Arbeitsplatz und eine ausreichende Pension. Das war genug. Dafür hielt man den Mund und zog sich in die eigenen vier Wände, in die eigene Welt zurück und ließ andere machen.

Jetzt ist man dabei zu merken, was man damit angerichtet hat. Die Menschen drängen wieder zurück auf die politische Bühne. Immer mehr sind nicht bereit, sie ohne irgendwelche Ansprüche Leuten zu überlassen, die nicht ihre sind. Die Occupy-Bewegung ist ein Zeichen dafür, dass es auf einmal neue Ansprüche gibt, was sich "Wutbürger“ nennt ebenfalls und natürlich die Piraten. Ungelenk zumeist versucht man sich zur Wehr zu setzen und verlorenes Terrain zurückzuerobern.

Die Politik sieht sich einem neuen Selbstbewusstsein der Bürger gegenüber. Anzufangen weiß sie zumeist noch nichts Rechtes damit. Zu weit haben sich die Strukturen, Einschätzungen und Wünsche von einander entfernt. Wünsche, Vorstellungen und Möglichkeiten, sie umzusetzen, passen nicht zusammen. Noch.

Es gilt neue Mittel und neue Wege zu finden. Der technische Fortschritt, neue Technologien wie Internet und Smartphones, könnte dabei eine wesentliche Rolle spielen und dem Fortschritt auch in der Politik auf die Sprünge helfen. Man darf gespannt sein.

Meine Meinung, Raiffeisenzeitung, 26. April 2012

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
UA-12584698-1