Donnerstag, 5. November 2015

Passagier der Geschichte



"Es geht um die Wurscht", sagt man in Österreich, umgangssprachlich und mit "sch", wenn es wirklich um etwas geht. Nämliches trifft freilich in diesem Sinn nicht auf die WHO-Studie zu, die Wurst und Fleisch als krebserregend einstufte und die in den vergangenen Tagen für große Aufregung und dicke Schlagzeilen sorgte. "Es geht um die Wurscht" trifft vielmehr auf die wirtschaftlichen und politischen Umstände in unserem Land und auf den Zustand des Landes insgesamt zu.

Es ist noch kein Jahr her, dass der Wechsel an der Spitze der VP der schwarz-roten Koalition ein bisschen Luft verschaffte. Und jetzt? Die Zeichen stehen schon wieder auf Sturm. Meldungen über Zerrüttungen und Streit in der Koalition mehren sich. Die Regierung zeigt sich überfordert. Und das nicht nur von der politischen Arbeit im eigentlichen Sinn.

Die Unfähigkeit und Probleme, den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden, das wurde in den vergangenen Wochen klar wie nie zuvor, beschränken sich nicht nur auf die Dinge, die Politik im eigentlichen Sinn ausmachen -Wirtschaftpolitik, Bildungspolitik, Sozialpolitik etwa. Darüber kann man durchaus geteilter Meinung ein. Was noch viel mehr irritiert, ist, wie überfordert das Land und seine Strukturen mit der Flüchtlingskrise ist. Die strukturellen Probleme, die sich zeigen, wenn es darum geht, in diesem Land Menschen ganz einfach zu helfen, sie zu versorgen und ganz grundsätzlich den Staat am Funktionieren zu halten und humanitäre Ansprüche zu erfüllen, wenn es ernst wird, lassen an Österreich als funktionierenden Staat, zumal als selbstständigen und selbstbestimmten Staat, zweifeln.

Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob man die Grenzen sperren sollte und wie viele Flüchtlinge das Land aufnehmen kann. Dabei geht es um nichts als die Frage, wie der Staat und seine Einrichtungen solche Anforderungen organisatorisch und technisch bewältigen können. Bisher hatte man zwar nie große Hoffnungen, dass unser Bundesheer das Land im Kriegsfall groß verteidigen könnte, glaubte aber immer daran, dass das Land zumindest in Katastrophenfällen gut aufgestellt ist und humanitäre Hilfe leisten kann, wenn das erforderlich ist. In den vergangenen Wochen wurden auch diese Hoffnungen enttäuscht.

Wenn aber auch das nicht mehr gewährleistet ist, wozu braucht man dann die Politik noch, fragen sich vor diesem Hintergrund mittlerweile nicht wenige. Das Land funktioniert, so hat man den Eindruck, nicht so sehr wegen der Politik und seiner Strukturen, sondern vielmehr trotz der Politik und der Strukturen. Das gilt für die Wirtschaft genauso wie bei der Bewältigung des Flüchtlingsstromes. Die Unternehmen halten sich seit Jahren tapfer über Wasser und behaupten sich auf den Märkten, obwohl sie nach wie vor unter im internationalen Vergleich sehr hohen Kosten, strengen Auflagen und überbordender Bürokratie zu leiden haben. Und im Flüchtlingsstrom wäre das Land längst untergegangenen, gäbe es nicht die tausenden freiwilligen Helferinnen und Helfer, die umsichtigen Mitarbeiter bei der Bahn und die zahllosen Polizisten, die mit menschlichem Augenmaß und nicht nach den Buchstaben des Gesetzes oder den Vorgaben der Politikerinnen und Politiker handeln.

Österreich steht ziemlich blank und entblößt da in diesen Wochen. Überfordert von den Entwicklungen, ohne jede Kraft, selbst etwas in die Hand zu nehmen und froh, nicht mehr als Durchhaus für den Flüchtlingsstrom nach Deutschland sein zu müssen. Dass die Misere längst an den Grundfesten des Staates rüttelt, verdrängt man in gewohnter Manier. Es bleibt offensichtlich auch nichts anderes. Man hat einfach nicht die Kraft zu Veränderungen. Der Eindruck, den die Regierung macht, ist nicht nur beim Umgang mit den Flüchtlingen ein überforderter und müder.

"Schönreden geht nicht mehr", schrieb dieser Tage die Kommentatorin einer großen österreichischen Tageszeitung. Ihr ist nur zuzustimmen. Dem Land fehlt der Schwung und der gute Wille. Man ist nur mehr Passagier der Geschichte. Aber statt die Dinge anzupacken und sich zu einem nationalen Schulterschluss zusammenzufinden, ergeht man sich mit wachsender Wonne in Koalitionsgezänk und Überlegungen, ob man mit dem richtigen Partner zusammen ist.

Eigentlich ist dazu jetzt nicht die Zeit. Wenn man aber glaubt, die Dinge ändern zu müssen, dann sollte man es schnell tun -oder es lassen. Die Zeit verlangt die Energie anderswo.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 5. November 2015

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