Donnerstag, 7. Januar 2016

Politik mit dem gestreckten Mittelfinger



Die glühenden Europäer sind kleinlaut geworden. Sie haben es schwer in diesem Monaten. Und sie sind nicht zu beneiden, viel eher zu bemitleiden. Kaum je zuvor waren die Europäische Union und die Idee von einem gemeinsamen Europa so zerzaust wie derzeit. Kaum je zuvor wurde so massiv an den Fundamenten der Union gerüttelt. Selbst führenden Politikern der Union, wie Parlamentspräsident Martin Schulz, ist inzwischen bang um die Zukunft des gemeinsamen Europas. "Wir drohen auseinanderzubrechen", sagen sie.

Der Druck ist groß wie nie zuvor. Allerorten Krisen und ungelöste Probleme. Und keine Antworten und schon gar keine Lösungen. Viel zu lange hat man oft zugeschaut, viel zu lange die Dinge treiben lassen, und viel zu oft hat man die Hoffnungen und Erwartungen der EU-Bürger enttäuscht. Man ließ Lösungen vermissen und Solidarität und Kompetenz, wo sie gefragt gewesen wären. Und im Umgang mit den Flüchtlingsströmen erreichten schlussendlich all das Unbehagen und all das Versagen ihren vorläufigen Höhepunkt.

Nichts von den Problemen ist ausgestanden. Für nichts zeichnet sich zumindest ein Ende ab und eine Beruhigung. Der Euro gilt nach wie vor als äußerst fragil, in Griechenland ist nichts gelöst, die Arbeitslosen Europas haben wenig zu erwarten. Und wie man mit den Flüchtlingen so umgeht, dass die Hilfsbereitschaft nicht in Chaos und Hass endet, weiß man auch nirgendwo.

Wenn das nur alles wäre. Europa hat auf dem internationalen Parkett in den vergangenen Jahren nicht nur in der Wirtschaft an Boden verloren, sondern auch in der Politik. Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt es nach wie vor nicht.

Führer wie Putin nutzen das weidlich und unverfroren. Und Leuten wie dem türkischen Präsidenten, der das präsidentielle System Hitlerdeutschlands unverhohlen als vorbildlich lobt und auf eigene Landsleute schießen lässt, muss man gezwungenermaßen schöne Augen machen, weil man auf ihn in der Flüchtlingsfrage angewiesen ist. Mangels eigner Kraft.

Da verwundert nicht, dass das Gebilde, das einst gegründet wurde, um Europa zu vereinen, auseinanderzubrechen droht. Was Brüssel sagt, ist in vielen EU-Mitgliedstaaten nicht einmal mehr Makulatur. Und da braucht man nicht auf Orbans Ungarn verweisen oder auf Polen unter der neuen ultrakonservativen Regierung. Da verstört noch viel mehr der Blick auf Länder wie Dänemark, das sein Asylrecht mit absurd anmutenden Maßnahmen verschärfte, und auf die Briten, deren Austrittsgelüste immer konkreter werden.

Es verwundert nicht, dass allerorten rechtspopulistische Parteien an die Staatsruder drängen, wenn sie sie denn nicht schon übernommen haben. So wie es ausschaut, könnten Ungarn und Polen nicht die einzigen bleiben. In Frankreich droht eine Wende und in anderen Ländern auch. Auch in Österreich. Das schwache Europa verschafft diesen Parteien den nötigen Raum.

Schon jetzt bestimmen die Rechtsparteien, auch wenn sie noch nicht in den Regierungen sind, zunehmend die politischen Entscheidungen in vielen Ländern, weil die Regierungsparteien allerorten keine anderen Ideen haben, als ihre Politik den Forderungen dieser Parteien in vorauseilendem Gehorsam anzugleichen. Zucht und Ordnung gelten da immer öfter als probate Mittel und Individualrechte immer weniger. Der Datenschutz wird der Terrorbekämpfung geopfert und die Reisefreiheit der Angst vor Flüchtlingen.

Die Europäische Union muss diesem Wandel in seinen Mitgliedstaaten zusehen. Hilflos, zerrüttet und ohne jede Autorität und Macht. Sie muss zusehen, wie sich die Staaten über einst vereinbarte Regeln mittlerweile ohne jede Rücksichtnahme und ohne Folgen befürchten zu müssen, hinwegsetzen. Ein Selbstbedienungsladen ohne jede Solidarität.

Von einer "gefährlichen Entsolidarisierung" spricht Martin Schulz gerne. Ihm ist in diesem Fall nicht Recht zu geben. Viel gefährlicher ist wohl die Solidarisierung der von populistischen Rechtspolitikern geführten Staaten, die gemeinsam Brüssel und der Idee von einem gemeinsamen Europa, das einst als Wirtschafts- und Friedensprojekt geründet wurde, den gestreckten Mittelfinger zeigen. Gefährlich ist das nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für den Euro, für die europäische Wirtschaft und für die Arbeitsplätze. Für uns alle also.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 7. Jänner 2016

1 Kommentar:

  1. Langsam aber sicher bleibt von der EU nichts mehr ausser die Tatsache dass wir uns eine fünfte, geldverschlingend aber gleichzeitg handlungsunfähige, Verwaltungsebene in Europa eingereten haben.
    Schuld daran sind aber natürlich die Nationalstaaten selber. Die wollen ja gar nicht das Brüssel funktioniert. Sonst käme ihnen der Sündnebock abhanden und die vielen Versorungsposten wären auch weg.

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