Donnerstag, 25. Oktober 2018

Vorwärts, zurück?



Die Zahl der Anträge auf die deutsche Staatsbürgerschaft in Großbritannien ist laut Medien seit dem Brexit-Votum stark gestiegen", stand dieser Tage in unseren Zeitungen zu lesen. Die Antragsteller seien meist Menschen, die vor dem NS-Regime nach Großbritannien geflohen sind, und deren Nachkommen. Das kann einen nachdenklich machen. Angesichts der grundlegenden, wie vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbaren Wende, die sich in Großbritannien abzeichnet, suchen nun die Menschen genau dort Zuflucht, wo sie und ihre Vorfahren einst verjagt und verfolgt wurden. 

Alles zurück. Alles was war, scheint mit einem Mal nichts mehr zu sein. Nur mehr Sorge um die Zukunft, Angst womöglich auch, jedenfalls große Verunsicherung. 

Es ist in diesen Monaten, als drehe sich die Welt mit einem Mal verkehrt. Zurück in Zeiten, die man längst überwunden glaubte. Nicht nur in Großbritannien. Die Welt, in der wir aufgewachsen sind und in der wir seit Jahrzehnten mehr oder wenig friedlich leben und unserer Wege gehen, mit der wir haderten, in der wir aber alles in allem so gut lebten, wie nie eine Generation vor uns, ist dabei aufgelöst zu werden. Aufgelöst von verantwortungslosen und auch unfähigen Politikern, die von den rund um die Welt gehenden Wellen des Populismus an die Macht gespült wurden.

Auf einmal ist Thema, von dem man glaubte, dass es nie mehr Thema sein wird. Der Brexit ist das ja nicht nur für die seinerzeit Geflüchteten und ihren Nachkommen. Der mögliche Austritt Großbritanniens aus der EU droht auch uns, die Europäischen Union und das ganze restliche Europa, weit zurück in Zeiten zu werfen, von denen man glaubte, dass es sie nie mehr wieder geben werde. 

Kommt der harte Brexit, wird es so sein, wie es früher war. So wie in den Zeiten, die damals Anlass für die Briten und auch für andere europäische Staaten waren, nach neuen Wegen der Zusammenarbeit zu suchen. Aber daran denkt heute niemand. Schon gar nicht denkt man in Londons Regierungsviertel daran. 

Da lässt man es allemal lieber krachen. Vorwärts, wir müssen zurück, ist salonfähige Devise. 

Auch bei US-Präsident Trump. Er legt sich mit Putin an und will das Atomwaffenabkommen, das die USA und die Sowjetunion in den 1980er-Jahren abschlossen, aufkündigen. Wie groß war die Erleichterung damals, als es gelang den Kalten Krieg, der über Jahrzehnte Europa als Geisel der Supermächte hielt, zu überwinden. Mit wie viel Sorgfalt hat man sich um die Einigung bemüht und vor allem in den Jahrzehnten seither, diese auch zu bewahren. Zu unser aller Wohl. Und nun soll es damit auf einmal wieder vorbei sein? Zurück an den Start? Zurück in die finsteren Zeiten einer zweigeteilten Welt?

In Italien sind Politiker an die Macht gekommen, die sich nichts dabei denken die Europäische Union zu demolieren, denen die gemeinsame Währung nichts wert ist und die sich ohne Skrupel über alles hinwegsetzen, was Europa gemeinsam erarbeitete.

Es ist, als ob gerade vieles von dem ausgehebelt wird, worauf unsere Generation baute. Mit einem Mal steht die offene Gesellschaft auf dem Spiel, in der Meinungsfreiheit oberstes Gut war und die Menschenrechte hochgehalten wurden. Offene Grenzen werden wieder geschlossen und damit ein Lebensgefühl eingesperrt, das so vielen Menschen so viel galt. Sogar darüber, wie viel Demokratie sein darf oder muss wird diskutiert. Und überall steht die Solidarität der Gesellschaft, über Jahrzehnte aufgebaut und entwickelt, mit einem Mal wieder auf dem Spiel. Vor zehn Jahren hätte man das nicht für möglich gehalten.

Freilich kann man sagen, was wir jetzt erleben, ist nichts als die Folge von Fehlentwicklungen, denen man zu lange zuschaute. Man kann sagen, man habe es sich zu bequem gemacht. Und man kann auch Verständnis finden für die neuen Rabauken an den Schalthebeln der internationalen Politik und ihnen vielleicht sogar auch applaudieren.

Aber es ist zu fragen, ob das ein Grund sein darf, all die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte einfach auf den Müll der Geschichte zu kippen. Oder ob es nicht doch bedeutend klüger wäre, auf den eingeschlagenen Wegen weiterzugehen. Auch wenn das vielen noch so mühsam erscheint.

Denn alles, was sich da jetzt als neue Wege abzeichnet, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit noch sehr viel mühsamer.


Meine Meinung, Raiffeisenzeitung, 25. Oktober 2018

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