Donnerstag, 19. September 2019

Fakten haben keine Lobby



Verunsicherung und Angst sind in den vergangenen Jahren zu den Hauptmerkmalen unserer überdrehten Gesellschaft geworden. Allerorten fehlt es an Vertrauen. An Vertrauen in die Politik und öffentliche Einrichtungen, in Unternehmen, in die Wissenschaft. Vieles wird einfach nicht mehr geglaubt, alles wird hinterfragt, hinter allem werden List und Tücke vermutet. Und überall, so scheint es mitunter, wittert man Gefahr für Leib, Leben und Gesundheit.

Verfolgt man die öffentliche Diskussion, möchte man meinen, die Gefahren seien noch nie so groß gewesen wie derzeit und alles so schlecht wie nie zuvor. Wer anderes sagt, hat einen schweren Stand.

Es gibt viele solcher Themen. Eines davon ist das weite Feld der Landwirtschaft, der Lebensmittel und der Ernährung. Wie kaum sonst wo hat sich dort oft Hysterie breitgemacht, obwohl etwa die Nahrungsmittel noch nie so sicher waren wie heute. Das freilich will niemand hören. Wohl auch, weil's in keines der Konzepte passt, mit denen viele ihre Geschäfte machen.

"Die persönliche Risikowahrnehmung ist eine Bauch-und keine Kopfsache", sagte jüngst der Chef der Agentur für Ernährungssicherheit Ages, die in vielen Bereichen Daten liefert, die ganz anderes belegen, als es dem Bild, das die Öffentlichkeit hat, entsprechen würde. Da ist nichts davon, dass man, wie heute oft der Eindruck vermittelt wird, mit jedem Lebensmittel heutzutage auch gleich einen ganzen Giftcocktail aus Pflanzenschutzmitteln zu sich nimmt. Da ist gar nichts davon. Aber in Sachen Nahrungsmittel hält sich wohl jeder für einen Experten.

Pflanzenschutzmittel gehören heute, sagt auch die Ages, zu den bestuntersuchten Substanzen. Und die Angst, die sie verursachen, steht in keinerlei Verhältnis zur Wirklichkeit. Von den tausenden Proben, die die Ages seit dem Jahr 2010 durchführte, wurden nur neun Proben als gesundheitsschädlich bewertet. In mehr als der Hälfte der Proben waren keinerlei Rückstände von Pflanzenschutzmitteln festzustellen. Und Höchstwert-Überschreitungen, die freilich noch keine Schädlichkeit für die Gesundheit bedeuten, gab es in den vergangenen zehn Jahren nur zwischen 0,8 und 2,8 Prozent der untersuchten Proben. Und von den 345 Lebensmittel-Rückrufen und -Warnungen seit 2010 waren nur zwei auf Rückstände von Pflanzenschutzmitteln zurückzuführen.

Mikrobielle Verunreinigungen waren dagegen in 146 Fällen der Grund für Rückrufe und Warnungen, heißt es im aktuellen "Risikometer Umwelt &Gesundheit" der Ages. Die mitunter grassierende Panik scheint da gänzlich unangebracht. "Das größte Risiko bei Obst und Gemüse ist zu wenig Obst und Gemüse zu essen", sagen die Wissenschaftler angesichts dieser Ergebnisse.

Die meisten lebensmittelbedingten Erkrankungen werden durch Mikroorganismen wie Bakterien und Viren verursacht, heißt es bei der Ages. "Während Rückstände von Arzneimitteln und Pestiziden an der Spitze der Besorgnisskala stehen, spielen Krankheitserreger wie Campylobacter und Salmonellen nur eine untergeordnete Rolle." Aber diese Fakten haben in unserer Zeit der Fake-News keine Lobby. Schon vor Jahren geißelte der Chef des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung die Küche als den größten Hort von Gefahren. Jedes Jahr erkranken ihm zufolge allein in Deutschland nachweislich mehr als 70.000 Menschen an einer Campylobacter-Infektion, die meist eine Folge mangelnder Küchenhygiene und fehlerhaften Umgangs mit heiklen Lebensmitteln wie Hühnerfleisch ist. "Man stelle sich vor, 70.000 Menschen würden sich statt mit Campylobacter an den Rückständen eines zugelassenen Pflanzenschutzmittels vergiften -da müsste dann wohl gleich die ganze Regierung zurücktreten."

Freilich ist Sorglosigkeit auch angesichts dieser Fakten nicht angebracht. Angebracht aber wäre, den Fakten mehr Beachtung zu schenken. Und angebracht wäre auch ein bisschen mehr Gelassenheit. Zu der freilich könnten auch die beitragen, die die Fakten liefern -wenn sie sich nicht so oft in ihren elfenbeinernen Türmen verstecken würden, sondern sich öfter trauen würden, sich der öffentlichen Diskussion zu stellen, die freilich mitunter einem wilden Getümmel gleicht. Schließlich haben auch sie das ihre dazu beigetragen, dass das Vertrauen zerschlissen ist. Vielleicht ist man sich zu nobel dafür. Man sollte es nicht sein. Dafür geht es um zu viel.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 19. September 2019

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