Donnerstag, 10. Oktober 2019

Dauerzustand Stillstand



Vor zwei Jahren war es mehr als ein halbes Jahr, dass in Österreich wegen der Nationalratswahlen, beginnend vom Wahlkampf bis zur Angelobung der neuen Regierung, praktisch Stillstand herrschte. Diesmal, nur zwei Jahre später, könnte es fast ein ganzes Jahr werden, wenn sich die Regierungsverhandlungen wirklich, wie das manche befürchten, bis nach Ostern ziehen sollten. Das ist, alles in allem, sehr viel Zeit, in dem in einem Land praktisch keine Politik stattfindet, in der vieles nicht vorangetrieben werden kann und in der man bei vielem, vor allem auch auf internationaler Ebene, mehr oder weniger zum Zuschauen verurteilt ist. Zumal dann, wenn man, wie die aktuelle Regierung, dezidierterweise nur verwalten will. Die anstehenden EU-Budgetverhandlungen sind so ein Thema, die Unsicherheiten rund um den Brexit und der Handelskrieg zwischen der EU und den USA. Österreich ist da sozusagen nicht an seinem Platz. Es ist freilich nicht so, dass die Dinge akut aus dem Lot geraten, aber es zeigt sich zunehmend, dass man sich in diesem Land um wichtige Themen nicht mehr wirklich kümmern kann.

So ist etwa die Wirtschaft seit Monaten kein echtes Thema mehr. Keine Rede und keine Diskussionen und schon gar kein Fortschritt, wenn es darum gehen soll, die Lohnnebenkosten zu verringern oder die Bürokratie. Keine Fortschritte gibt es auch bei der Standortpolitik. Und für die großen Themen, die die Wirtschaftswelt bewegen, wie etwa die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die Innovation oder die Digitalisierung, hat man gleich gar keine Zeit. Dabei gilt, wie dieser Tage eine Zeitung formulierte, Österreich als "digitaler Sitzenbleiber".

Die Zeichen mehren sich, dass das Land wieder über längere Zeit eine stabile Führung braucht. Der Handlungsbedarf wächst. "In gewisser Weise leben wir noch vom Restalkohol der Konjunkturparty 2017/18", formulierte erst jüngst IHS-Chef Martin Kocher bei der Vorstellung der Wirtschaftsprognose durch Wifo und IHS griffig wie drastisch. Die Exporte haben an Schwung verloren und am Arbeitsmarkt beobachtet man einen Trend zum Schlechteren. Und die Wachstumsprognosen sind sehr verhalten.

Nicht gerade dazu angetan, die Stimmung zu heben, ist, dass auch Deutschland in ein Wellental geraten ist und mit schlechten Prognosen zu kämpfen hat. Der einstige Motor der europäischen Wirtschaft stottert. Angela Merkel scheint nur noch ein Schatten ihrer selbst zu sein, interne Nachfolgekämpfe in CDU und SPD lähmen das Land. Vor allem die Autoindustrie ist es, die dort Sorgen macht. Auch wenn nicht mehr gilt, dass Österreich die Grippe bekommt, wenn Deutschland Schnupfen hat, gehen doch da und dort auch bei uns die Warnlichter an.

Dass auch in der Europäischen Union mehr oder weniger Stillstand herrscht, tut sein Übriges in dieser Situation. Die alte Kommission ist praktisch nicht mehr im Amt, die neue noch nicht. Und das Europäische Parlament ist damit beschäftigt, sich nach den Europawahlen neu aufzustellen.

Für die Anforderungen ist man da wie dort nicht adäquat aufgestellt in diesen Monaten. Oft scheint man nur Passagier der Entwicklungen zu sein. Für den Umgang mit dem Brexit und dem drohenden Chaos gilt das und auch für den Umgang mit dem wild um sich schlagenden US-Präsidenten, der sich durch ein Amtsenthebungsverfahren in Bedrängnis sieht. Nicht nur da zeigt sich, dass die EU international an Bedeutung verloren hat. Oft aus Unfähigkeit, oft aber, weil man sich selbst mit Vorschriften und Auflagen knebelt und sich so regelrecht aus dem Spiel nimmt. Europa ist alt geworden. Neues kommt kaum mehr von diesem Kontinent. Viel zu lange hat man sich überlegen gefühlt. Die Musik spielt in Asien und in den USA. China drängt international in die Führungsrolle. Und Putin verfolgt ungestört seine Interessen.

"Europa ist gar nicht richtig im Spiel", ätzt der US-amerikanische Nobelpreisträger Edmund Phelps, wenn es um Innovationen geht. Und das gilt wohl auch für viele andere Bereiche.

Dass es in solchen Zeiten an politischer Führung fehlt, ist nicht ohne Gefahr. Nicht in Europa. Und auch nicht in Österreich. Hier gilt es, das Land an geänderte Anforderungen und an Entwicklungen anzupassen. Und mitzureden, wo man mitreden kann. Denn gerade in solchen Konstellationen ist, was man Führung nennt,

besonders gefragt. Alle, die es nun in der Hand haben, sollten das als Auftrag sehen. Und als Verpflichtung.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 10. Oktober 2019

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