Samstag, 28. November 2020

Biobauer nur mit Ausnahmegenehmigungen?

Weil die EU-Bioverordnung in das Jahr 2022 verschoben wurde, warten Österreichs Biobauern auf neue Übergangsbestimmungen für das kommende Jahr.


Hans Gmeiner 

Wien. Vor einem Jahr war bei den heimischen Biobauern Feuer am Dach. Weil in Österreich nach Ansicht der EU die Regeln für den Biolandbau allzu großzügig ausgelegt wurden, drohte Hunderten Bauern die Aberkennung des Biostatus. Plötzlich stand damals der Ruf Österreichs als europäisches Bioland Nummer eins auf dem Spiel. Am letzten Abdruck fand man mit Anpassungen und Fristerstreckungen in den kritisierten Bereichen Lösungen für das heurige Jahr, die auch von der EU akzeptiert wurden und mit denen auch die Bauern leben konnten. Der befürchtete Einbruch des Biolandbaus in Österreich blieb aus. Nur ganz wenige Bauern stiegen aus Bio aus. Jetzt ist das Thema wieder auf dem Tisch. Da die neue EU-Bioverordnung von 2021 auf 2022 verschoben wurde, braucht man nun auch für das kommende Jahr eine Übergangslösung. Die freilich steht fünf Wochen vor Beginn des neuen Jahres erst in groben Zügen fest. In den nächsten Tagen erwartet man in Wien ein klärendes Schreiben aus Brüssel, in dem offene Fragen beantwortet und der Weg für 2021 vorgegeben wird.

Worauf sich die Biobauern einstellen müssen, steht noch nicht fest. Anders als heuer wird es, so viel ist schon jetzt klar, keine generellen Lösungen für all jene Bauern geben, die Probleme haben, aber die schon jetzt gültigen EU-Anforderungen erfüllen. Nach derzeitigem Stand der Diskussion wird es in Zukunft etwa bei der Weidehaltung oder der Überdachung des Auslaufs für die Tiere notwendig sein, dass jeder Bauer eine Ausnahmegenehmigung für jede Maßnahme, die er nicht erfüllen kann, beantragen muss. Das gilt auch für die Anbindehaltung von Kühen oder die EU-Vorgaben bezüglich der Enthornung von Rindern oder bei der Kastration von Ferkeln.

Auf die Biobauern, aber auch auf die Beratung und die Biokontrollstellen kommt damit ein enormer bürokratischer Aufwand zu. Der lässt in Fachkreisen bereits die Köpfe rauchen. „Ein durchschnittlicher Biobetrieb wird bis zu drei Ausnahmegenehmigungen brauchen“, ist zu hören. Allein für die temporäre Anbindehaltung von Kühen über die Wintermonate wird rund die Hälfte der Biobetriebe einen Ausnahmeantrag stellen müssen.

Wenn Tausende Bauern nur auf Grundlage von einer oder gar mehreren Ausnahmegenehmigungen Biolandwirtschaft betreiben könnten, könnte das neben der Bürokratie auch andere unangenehme Konsequenzen haben, konkret einen nicht unbeträchtlichen Imageschaden der Biolandwirtschaft.

Unklar ist auch noch, wie es mit den von den Bauern geforderten Weideplänen weitergehen wird. Sie wären eigentlich bis Ende November dieses Jahres zu erstellen gewesen. Nun geht man davon aus, dass die Frist dafür bis Ende März erstreckt wird. Noch nicht vom Tisch sind auch die von der EU angedrohten Strafzahlungen. Dabei geht es um bis zu 100 Millionen Euro, heißt es in informierten Kreisen.

Klar ist indes, dass die heimischen Biobauern nach dem neuerlichen Übergangsjahr nach Inkrafttreten der neuen EU-Bioverordnung im Jahr 2022 nicht mehr auf Ausnahmen hoffen können. Dann wird auch für sie gelten, was für alle europäischen Biobauern gilt.

Salzburger Nachrichten - Wirtschaft, 28. November 2020

Donnerstag, 26. November 2020

Der ganz normale Wahnsinn

Der Briefträger hat den Wahnsinn im Auto. Sein Kastenwagen ist bis oben hin gerammelt voll mit Paketen. Mit großen, mit ganz großen und mit zahllosen kleineren dazwischen. Und immer werden es noch mehr. "Sogar einen zwei Meter langen Baum samt Wurzelballen habe ich heute mit", sagt er. Er hat es irgendwie geschafft, ihn zwischen all die Pakete hineinzuzwängen. "Das ist ein Wahnsinn", stöhnt er. Und es ist ihm nur recht zu geben.

Aber der Wahnsinn ist verständlich. Es geht wohl nicht anders. Die Geschäfte haben zu, Weihnachten steht vor der Tür und Rabatte locken. Da fallen die Hemmungen schnell, zumal ja gar nicht sicher, ob vor Weihnachten wirklich noch die Geschäfte aufgemacht werden. Mit unabsehbaren Folgen. War das Internet schon bisher eine überstarker Konkurrent für viele im heimischen Handel, so droht heuer die Situation regelrecht zu kippen, weil die Konsumenten im Lockdown kaum Alternativen haben. Und das kann für viele Firmen desaströse Ausmaße annehmen.

Dabei steht man erst am Beginn des Wahnsinns, der in dieser Woche mit der Black Week startete, Ende der Woche im Black Friday als internationalen Schnäppchentag gipfelt und dann nahtlos in das Weihnachtsgeschäft übergeht, das sich heuer wohl mehr denn je online abspielen wird. "Der Onlinehandel ist seit Jahren auf dem Vormarsch", heißt es in Analysen. "Die Coronakrise hat scheinbar alle Dämme brechen lassen: Während stationäre Händler massiv verlieren, wachsen Onlineanbieter zweistellig." Schon im Vorjahr kutschierten Post und Paketdienste allein im Dezember nicht weniger als eine Million Pakete durchs Land. Es ist wohl davon auszugehen, dass heuer die bisherigen Zahlen abermals deutlich übertroffen werden. "Die Verbraucher dürften heuer weniger die Innenstädte fluten, sondern mehr online kaufen", heißt es allerorten. Könnte durchaus sein, dass Corona den endgültigen Sieg des Online-Handels markiert.

Aber nicht nur das. Es gibt auch vielen heimischen Handelsbetrieben endlich den Digitalisierungsschub, den sie längst gebraucht hätten, um sich gegen die internationalen Riesen zu behaupten. Es steht zu hoffen, dass Corona auch in diesem Bereich, in dem man schon so viel Terrain verloren hat, dass sich Existenzängste breit machten, eine Wende markiert. Denn angesichts des Drucks versuchen inzwischen immer mehr Unternehmen dagegenzuhalten, bauen in aller Eile einen Versand ihrer Produkte auf, setzen auf Service und Nähe und sehen das oft so angefeindete Internetgeschäft als den einzigen Weg zu den Kunden.

Es ist oft bewundernswert, was da in aller Eile auf die Beine gestellt wird. Rund 5.000 Webshops gibt es inzwischen in Österreich, dazu eine ganze Reihe von E-Commerce-Plattformen, die versuchen das Angebot der Unternehmen zu bündeln und Internet-Kunden zu österreichischen Anbietern zu lenken. Von Shöpping.at bis hin zu Kauf regional. Für den Handel und andere Unternehmen auch, die nun auch online ihre Produkte und Dienste anbieten, ist das ein Qualitätssprung, der nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Vor Illusionen sei dennoch gewarnt. Auch die tollsten Konzepte und Innovationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass man dennoch oft auf verlorenem Posten steht. Selbst große Unternehmen tun sich schwer, sich zu behaupten. Diese Entwicklung braucht angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse mehr Aufmerksamkeit von der Politik. Denn es geht nicht nur um wirtschaftlichen Erfolg und den Schutz vor übermächtiger Konkurrenz, sondern auch um die vielen dunklen Flecken des Booms. Dauergestresste Kurierdienste sorgen für eine zusätzliche Verkehrsbelastung, mehr CO2-und Schadstoffausstoß und jede Menge Verpackungsmüll. Der zumindest ließe sich beschränken, würde mit vielen Packungen nicht vor allem Luft transportiert, weil sie viel zu groß sind für die Dinge, die in ihnen geliefert werden.

Aber davon redet niemand, schon gar nicht, dass es Anstalten gäbe, diese Entwicklung zu begrenzen. Die Politik ist gefordert, steuernd einzugreifen, Fehlentwicklungen in den Griff zu kriegen. Genauso wie von den Konsumenten Verantwortung einzufordern ist. Denn letztendlich sind sie es, die mit ihrem Verhalten und der Jagd nach immer noch billigeren Schnäppchen den ganzen Wahnsinn erst ermöglichen und Entwicklungen lostreten. Schon vor Corona. Und seit Corona erst recht.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 26. November 2020

Donnerstag, 19. November 2020

Sorglos durch die Jahre

Da waren sie wieder diese Bilder. Schlangen vor Geschäften, die mit Sonderangeboten lockten, überfüllte Einkaufszentren, volle Supermärkte. Und da waren auch wieder die leeren Regale. Da und dort zumindest. Das Land bereitete sich nicht auf den neuen, jetzt als "hart" ausgerufenen Lockdown vor, sondern nutzte noch einmal die Möglichkeiten des "weichen" Lockdowns, mit dem seit Anfang November vergeblich versucht wurde, die Corona-Zahlen in den Griff zu kriegen. Allerorten schien man nachgerade die Sorglosigkeit beweisen zu wollen. Und sorglos sind die Österreicher wohl. Nicht nur im Umgang mit der Pandemie, sondern auch in der Vorbereitung auf Herausforderungen wie diese.

Corona zeigt viel. Es legt Charaktere offen, es führt vor, wie Menschen in besonderen Situation ticken und auch, wozu sie fähig respektive nicht fähig sind. Corona hat bisher viele neue Einsichten eröffnet. Eine davon war gerade am vergangenen Wochenende wieder eindrücklich zu besichtigen. Man tut sich schwer damit, zu lernen. Nicht einmal aus den Erfahrungen, die man im Frühjahr vor dem ersten Lockdown machte, als man um Klopapier anstand und die Supermärkte regelrecht plünderte, weil man Angst um die Versorgung, aber nichts zu Hause hatte.

Wer glaubte, diesmal sei es besser, wurde eines Besseren belehrt. Wieder waren vor allem die Haushalte schlecht vorbereitet, längst vergessen waren die Vorhaben, Pläne und Versprechungen, sich für Notzeiten Vorräte anzulegen. Besser vorbereitet sind diesmal allenfalls die Hersteller und der Handel in den neuen Lockdown gegangen. Die privaten Haushalte hingegen kaum. Gut bestückt sind dort allenfalls die Alkoholvorräte, sonst aber schaut es eher schlecht aus, ätzen nicht ohne Grund Kritiker des österreichischen Schlendrians.

Wenn es nicht gerade um Dinge geht, die mit Geld zu regeln sind, wie etwa Sparen oder Versicherungen, haben die Österreicherinnen und Österreicher ein gestörtes Verhältnis zur Vorsorge für schlechte Zeiten. Kaum jemand sichert sich mit Vorräten oder technischen Vorkehrungen für Ernstfälle, wie jetzt die Pandemie, aber auch gegen Stromausfälle oder andere technische Katastrophen oder Ähnliches ab, die gemeinsam haben, im Ernstfall just nicht mit Geld geregelt werden zu können.

Laut einer Umfrage in Oberösterreich fühlt sich dort nur rund ein Zehntel der Bewohner selbst sehr gut auf einen Ernstfall vorbereitet. In anderen Bundesländern wird es kaum anders sein. Appelle der Zivilschutzverbände -ja, so etwas gibt es -"Vorsorge sollte ein Dauerthema sein und jeder Haushalt in Österreich sollte eine Grundbevorratung haben" verhallen hierzulande traditionell völlig wirkungslos.

Und das ist den Österreicherinnen und Österreichern nicht einmal zu verargen. Die Öffentlichkeit, respektive der Staat, lebt ihnen seit Jahrzehnten nichts anderes vor. Wenn, wie vor wenigen Jahren, der damalige Landwirtschaftskammerpräsident Schultes den Aufbau von Getreidelagern forderte, um für Notfälle gewappnet zu sein, erntete der Vorschlag nicht einmal ein müdes Lächeln, sondern allenfalls Häme, weil man dahinter wieder eine Bauernlist vermutete, zu mehr Geld zu kommen. Gar nicht zu reden davon, was sich die seinerzeitige Gesundheitsministerin Rauch-Kallat jahrelang wegen des Vorrats an Schutzmasken anhören musste, den sie seinerzeit wegen der Bedrohung durch SARS anlegen ließ. Und Legion sind die Pamphlete, in denen Politiker und Leitartikler eine, wie sie sie befanden, Überzahl an Spitalsbetten geißelten. An dieser Haltung änderte sich auch nichts, als im Vorjahr das Festnetz in weiten Teilen Österreichs ausfiel. Und nicht einmal, als man im Frühjahr in aller Welt um Schutzkleidung und Masken betteln musste.

Letztere gibt es nun zwar, aber die anderen großen Themen sind immer noch offen. Trotz aller Erfahrungen und Versprechungen in und mit der Corona-Krise. Immer noch etwa gibt es keine Antwort auf die Warnung von Experten, dass binnen fünf Jahren etwa mit einem Strom-Blackout zu rechnen ist. Nicht von der Politik und nicht von der Wirtschaft. Und auch nicht von privaten Haushalten.

Was aber ist, wenn dann wirklich der Strom weg ist, wenn die Lifte stecken und die Kühltruhen auftauen, kein Wasser fließt und kein Telefon funktioniert? Man will es sich nicht ausmalen, aber man könnte es vielleicht doch so einrichten, dass man halbwegs zurande kommen kann damit. Jetzt wäre die Zeit dazu. Auch im Privatbereich.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 19. November 2020

Donnerstag, 12. November 2020

Von wegen immer super

In Österreich versucht man sich in diesen Tagen zu sortieren. Und man muss es wohl auch. Österreichs kleine Welt, die man sich so arglos zurechtgezimmert hat, taugt nicht mehr wirklich zum arglosen Wohlfühlen. Das Attentat in Wien hat Angst und Entsetzen verbreitet und das Land in einen Schock versetzt. Und wurde man noch im Frühjahr nicht müde, sich als das Land, das Corona am besten im Griff hat, auf die Schultern zu klopfen, zählt Österreich jetzt zu den Ländern, in dem die Zahlen explodieren wie kaum sonstwo. Und das alles in einem Land, dessen Selbstverständnis und dessen Selbstbewusstsein darauf fußt, etwas ganz Besonders zu sein. Etwas Besseres in einer Welt, die von immer mehr als immer schlechter, ungerechter und bedrohlicher empfunden wird. Eine Insel der Seligen, wie man so gerne sagt.

In Österreich ist man ja immer schnell mit Superlativen, wenn es darum geht, das Ego aufzublasen. Da erbaut man sich daran, dass die Bundeshauptstadt angeblich die lebenswerteste Metropole der Welt sei, man hält sich für das gastfreundlichste Volk, behauptet nicht nur, das beste Essen, sondern auch die weltbesten Lebensmittelstandards zu haben, die saubersten Gewässer und die besten Skifahrer. Jeder bessere Landeshauptmann respektive jede bessere Landeshauptfrau ernennt ein paar benachbarte und toll funktionierende Unternehmen gleich zur europaweit führenden Wirtschaftsregion, und wer in Übersee oder im Fernen Osten Erfolg hat, gilt gleich als Exportweltmeister oder Weltmarktführer. Und klar, dass man sich auch, wie dieser Tage der "Kurier" schrieb, für eines der bestverwalteten und sichersten Länder der Welt hält.

Spätestens hier aber zeigt sich, dass die Wirklichkeit nicht stützen kann, was bei vielen, vor allem auch vielen Politikern in Regierungsverantwortung, das Selbstbewusstsein nährt. Denn das stimmt wohl nicht und ist nicht zu halten. Österreichs Verwaltung ist gut und man muss froh sein, so eine zu haben, aber sie ist nicht die beste und schon gar nicht Weltklasse, wie immer wieder versucht wird uns weiszumachen. Das zeigte sich ganz dramatisch rund um das Wiener Attentat, bei dem die Pannen im Umgang mit dem späteren Attentäter sehr schnell ruchbar wurden. Das zeigte sich aber auch schon vorher immer wieder. Man denke nur an all das, was alleine in der Corona-Krise auffällig wurde - von den schlampigen Verordnungen, die vor dem Höchstgericht nicht standhielten, bis hin zur fehlenden Schutzkleidung für das Gesundheitspersonal. Es sei erinnert an den Commerzialbank-Skandal, von dem man immer noch nicht glauben kann, dass er möglich war, oder an die Hypo Kärnten. Und es wundert nicht, wenn jetzt in den Zeitungen steht: "Bei jeder der vielen Krisen in letzter Zeit fliegt ein eklatantes Behördenversagen auf."

Das zeigt, was man hierzulande nicht gerne hört -Österreich ist nicht so perfekt, wie man sich gerne gibt. Österreich braucht keinen internationalen Vergleich zu scheuen, in keinem Belang. Und es stimmt vieles von dem, woran sich in Österreich jedermann und jedefrau aufbaut. Aber es stimmt eben nicht in dem Maß, wie man es für sich Anspruch nimmt. Österreich ist gut, aber es ist nicht so gut, wie man gerne vorgibt zu sein. Im internationalen Vergleich hält es selten, weil es halt oft nicht mehr als Überschriften und Schlagworte sind, mit denen man sich gut darstellen will.

Man neigt im Land schnell zu Superlativen, die keine sind. Das mag mit der Größe, respektive Kleinheit des Landes zusammenhängen, das international gesehen und beachtet werden will. In vielen Bereichen kann das zur Gefahr werden, weil es, um noch einmal den "Kurier" zu zitieren, oft auch "an der Fehleranalyse hapert". Man schaut zu wenig genau hin und man neigt dazu die Augen vor der Wirklichkeit lieber zu verschließen, als etwas zu verändern. Eines der großen Probleme dieses Landes ist, dass man zwar nicht dazu neigt, sich selbst zu belügen, aber doch dazu, Dinge geschönt darzustellen und dabei mitunter die richtigen Weichenstellungen versäumt.

"Weltberühmt in Österreich" zu sein reicht zu oft. Das ist ja nicht grundsätzlich unsympathisch. Aber mehr Selbstkritik und weniger Selbstüberschätzung wären oft sehr viel richtiger und angemessener. Auch deswegen, damit es nicht zu solch fatalen Fehlern kommt, die zu Folgen wie den Ereignissen am Montag der Vorwoche in der Wiener Innenstadt führen.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 12. November 2020

Donnerstag, 5. November 2020

Jugend am Abstellgleis?

So jung war noch keine Regierung. Und ausgerechnet bei ihr ist überall von den Sorgen zu hören, dass die jungen Menschen in der Corona-Pandemie von der Politik im Stich gelassen werden. "Die Jugend zahlt wieder die Zeche", schreiben die Zeitungen. Wohl nicht zu Unrecht.

Längst macht sich bei den Jungen Frust breit. Nicht nur, dass sie keine Gelegenheit hatten, ihre Matura oder ihren Schulabschluss zu feiern, dass ihnen Praktika gestrichen oder Ferienjobs abgesagt wurden und die Führerscheinkurse zu Endlosgeschichten wurden, weil die Fahrschulen nicht mehr nachkamen. Längst geht es auch ans Eingemachte, das man nicht mehr mit einem Achselzucken und ein paar beruhigenden Worten beiseiteschieben kann. Der Arbeitsmarkt für die bis zu 29-Jährigen hat sich mit Corona völlig gedreht. Auf dem Lehrlingsmarkt fehlen tausende Plätze, auch wenn da und dort davon zu hören ist, dass die Lücke kleiner wurde und nicht mehr ganz so viele Lehrstellen fehlen. Immer noch sind gut 40.000 Jugendliche, ein Drittel mehr als vor einem Jahr, derzeit arbeitslos. Inklusive derer, die derzeit AMS-Schulungen absolvieren, sind es gar 61.000. Und es werden in den nächsten Monaten wohl nicht weniger werden.

Die Politik horcht immer noch nicht auf. Die Regierung kündigt Projekte wie einen "Aktionsplan gegen Armut" oder einen "Pakt gegen die Alterseinsamkeit." Aber Programme und Initiativen für die Jungen? Fehlanzeige. Da verwundert nicht, dass der Frust wächst. Das Integral-Institut erhob, dass die jungen Menschen bis 29 ihre Situation überdurchschnittlich pessimistisch sehen. 40 Prozent, mehr als alle anderen Altersgruppen, blicken besorgt in die Zukunft und fürchten um ihre Lebenschancen. Diese Stimmungslage bestätigt auch der am Wochenende veröffentlichte "JugendTrendMonitor" von Marktagent und DocLX. Demnach machen sich inzwischen bereits 45 Prozent der Jungen Sorgen um ihre berufliche Zukunft, elf Prozent sogar sehr ernste. Fast neun von zehn der 20-bis 25-Jährigen sind überzeugt, dass Corona die Situation für Berufseinsteiger besonders schwierig macht. Und mehr als zwei Drittel halten die Maßnahmen der Bundesregierung, die beruflichen Chancen der Jugend in der derzeitigen Situation zu verbessern, für "nicht ausreichend".

Dabei hat die Zukunft noch gar nicht begonnen. Denn was den Jungen nicht nur jetzt in der Krise aufgebürdet wird, wird sich noch als große Last erweisen. Da geht es auch um die Finanzierung des Pensionssystems oder um die Klimalasten, die wir seit Jahrzehnten in die Zukunft verschieben. Da geht es auch, und das zeigt sich jetzt, wo das Land mit der Devise "Koste es was es wolle" durch die Krise zu kommen versucht, um enorme Schuldenberge, die die nächste Generation und wohl auch die übernächste abbauen muss. Der Verweis darauf, dass es noch keiner Generation so gut ging und sie vom noch nie dagewesenen Wohlstand profitiert, wird da nicht mehr verfangen. Vor allem auch, weil das für viele der Jungen auch gar nicht stimmt, so wie es nie gestimmt hat.

Es ist schwer abzuschätzen, was die Krise für die Jungen wirklich bedeuten wird und wie schlimm die Spuren sein werden, die die Erfahrungen, die sie in diesen Monaten machen, in ihren Lebenschancen und in ihren Lebensläufen hinterlassen werden. Klar ist nur, dass die Politik gefordert ist, die Jungen nicht zu übersehen und sie und ihre Sorgen ernst zu nehmen. Es muss alles getan werden, sie nicht aus dem System kippen zu lassen und ihre Chancen und Perspektiven für ihr Leben aufrechtzuerhalten.

Junge Menschen halten viel aus und sind auch belastbar. Aber auch sie haben ihre Grenzen. Und die sind schnell erreicht, wenn sie erkennen müssen, dass sie alleingelassen werden und dass man es sich zu ihren Lasten richtet. Billige Versprechungen nutzen da wenig. "Es geht darum, die jungen Menschen, die krisenbedingt um ihre Chancen gebracht zu werden drohen, in den Arbeitsmarkt, den Sozialstaat, die Gesellschaft zu integrieren", hieß es schon vor Monaten in einer großen österreichischen Tageszeitung. "Wir können es uns nicht leisten, wegen eines Virus und der damit verbundenen Verwerfungen ganze Jahrgänge junger Menschen zu verlieren."

Dem ist nicht nur zuzustimmen. Das ist auch zu leben und beständig einzufordern.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 5. November 2020
 
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