"Na und? Bei mir ist jeden Tag Amoklauf?" stand da auf Twitter. Oder "Im russischen Kernland knallt es auch öfter mal, dann ist der ganze Wohnblock weg oder die Familie ausgelöscht - und?" Oder "Das Blut aller 11 Opfer klebt, unabhängig vom Tatmotiv, im gleichen Maß auch an den Händen der Pro-EU-Politiker." Oder "Hier hört man die Schüsse in der Grazer Schule. Das Video wurde in einem Klassenzimmer gefilmt." Oder "Ist das wieder so ein Transgender?" Oder "Warum wird beim Gottesdienst nur den islamischen Opfern Anteilnahme erwiesen? Sind die anderen nichts wert? Dieser salbungsvolle Gottesdienst ist unerträglich".
Was ist in den Köpfen solcher Menschen los? Was da in der vergangenen Woche nach dem Amoklauf in Graz auf Twitter und in anderen Sozialen Medien, aber auch in den Foren von Zeitungen zu lesen war, war nicht nur in der Quantität unerträglich, sondern vor allem auch inhaltlich bestürzend. Man mag sich nicht vorstellen, dass Leute, die so etwas von sich geben, die so denken, so urteilen und solche Schlüsse ziehen, vielleicht in der Umgebung wohnen. Dass sie im Supermarkt vor einem an der Kassa stehen oder im Wartezimmer beim Arzt neben einem sitzen. Freundlich vielleicht und nett sogar, unscheinbar und durch nichts zu erkennen, was in ihren Köpfen los ist. Man mag es nicht fassen. Man ist erschrocken und man ist verwundert. Vor allem aber mag man es nicht glauben.Aber es ist wohl so. Im Schutz der Anonymität haben immer öfter Menschen keinerlei Hemmungen mehr, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Offen zu sagen, was sich in ihren Köpfen wirklich abspielt, was sie denken, und dass sie fordern und was ihrer Meinung nach getan werden müsste.
Als Österreicherin respektive Österreicher ist man einiges gewohnt und man hat gelernt, dass viele der Landsleute auf doppeltem Boden leben und sich in der Öffentlichkeit ganz anders darstellen, als sie wirklich sind. Aber Graz hat wohl auch in dieser Hinsicht eine neue Dimension aufgezeigt. So viel unverhohlener und ungenierter Hass, und so viel unverhohlene Dummheit auch, hat sich bisher noch nie in der Öffentlichkeit dargestellt. Auch nicht in schlimmsten Corona-Zeiten.
Das kann einem Angst machen. Immer mehr Menschen, die selbst in extremen Situationen zu keiner Empathie mehr fähig sind, sondern nur zu Hass, Bosheit, Rechthaberei und Verachtung. Die jede Auseinandersetzung verweigern und keinerlei Argumente mehr akzeptieren. Die immer öfter für nichts und niemanden mehr erreichbar sind und in ihrer eigenen Welt leben. In einer Welt, zu der auch die Möglichkeit gehört, für andere zur Bedrohung zu werden. So wie der Amokschütze von Graz.
Aber längst ist das nicht mehr das Problem Einzelner, sondern der Gesellschaft. In einem Interview mit den Salzburger Nachrichten spricht die Psychotherapeutin Martin Leibovici-Mühlberger von der "individualistischsten" Welt aller Zeiten und bezeichnet diese Gesellschaft als "von großer Verwirrung geprägt". Die Krisen und Gefahren rundherum drückten die Stimmung in der Gesellschaft, führten zu Instabilität, Angst und Rachegelüsten. "Zudem demontieren wir mit der Hyperindividualisierung, in der das Ich dominiert, die Gemeinschaft." Für sie ist das eine "vielfältig fatale Entwicklung".
Dass es so weit kommen konnte, hat auch mit einer zunehmend Verantwortungslosigkeit in der Politik zu tun, die sich von billigem Populismus treiben ließ und den Menschen oft nicht mehr bieten kann als leere Versprechungen. Sie hat aber auch mit oft verantwortungslosen Medien zu tun, denen um der Quoten und Verkaufszahlen willen nichts zu billig und auch nichts zu blöd ist. Und das hat auch damit zu tun, dass der Gesellschaft der Kompass abhanden gekommen ist, zu dem früher die Kirchen gehört haben, aber auch Universitäten, Schulen, Unternehmen und viele andere Einrichtungen. Ihr Einfluss ist verschwunden, untergegangen oft im billigen Zeitgeist und kaum mehr verteidigt, schon gar nicht mit Erfolg.
Nach dem, was das Land in der Vorwoche erleben musste, kann man die Zuversicht verlieren. Man muss aber nicht. Denn die vergangene Woche zeigte auch bei allem Leid sehr viel Positives. "Wir sind stärker", hieß es bei der Gedenkfeier in Graz. Es wurde auch sehr viel richtig gemacht. Von den Sicherheitskräften angefangen, über die Hilfsorganisationen, den Bundespräsidenten, bis hin zum Schuladministrator -und den vielen, vielen Menschen, die ihre Betroffenheit und ihre Empathie zeigten. Auch in den Sozialen Medien.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 18. Juni 2025
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