Donnerstag, 23. Juli 2020

Paralleles Leben



Als sich von wenigen Wochen Kurden und Türken in Wien-Favoriten Straßenschlachten lieferten, sorgte das umgehend für Aufregung, Empörung und fette Schlagzeilen. Viele im Land hat das aufgeschreckt. Die Integrationsministerin redete umgehend einem Frühwarnsystem für Parallelgesellschaften das Wort, denn diese seien Nährboden für Gewalteskalationen, wie man sie in Wien erlebte. "Wir müssen alles tun, damit diese nicht wachsen bzw. sich im Idealfall wieder auflösen", sagte sie.

Sie weiß die Bevölkerung hinter sich, bestätigte doch eine Umfrage des österreichischen Integrationsfonds, dass 70 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher so wie die Ministerin die Existenz von Parallelgesellschaften wahrnehmen und negative Folgen für das Zusammenleben befürchten.

Parallelgesellschaft ist ein soziologischer Begriff. "Er beschreibt die gesellschaftliche Selbstorganisation eines sozialen Milieus, das sich von der Mehrheitsgesellschaft abschottet und ein alternatives Wertesystem befolgt", definiert es die Wissenschaft. Es könne ethnisch oder religiös oder von beidem zugleich geprägt werden, entspreche dabei nicht den überkommenen Regeln und Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft und überschneide sich in seinem Bedeutungsinhalt mit Gegenkultur und Subkultur.

Fasst man den Begriff so weit, ist das Phänomen freilich nicht allein auf Zugezogene zu begrenzen in diesem Land. Denn auch vielen Österreichern (und weniger Österreicherinnen) sind Parallelgesellschaften und Parallelwelten als Lebensumfeld nicht fremd. Immer wieder geraten solche ins Scheinwerferlicht und zeigen, dass es in diesem Land einen doppelten Boden zu geben scheint, auf dem es sich viele eingerichtet haben, um ihre Ziele zu verfolgen. Man denke nur an die Affäre rund um die schlagenden Verbindungen, die vor Jahren in Niederösterreich aufpoppte und der staunenden Öffentlichkeit Blicke in die Abgründe der heimischen Gesellschaft bot -Gruselgeschichten und Politkrimi inklusive.

Das Erstaunen und die Verwunderung sind immer wieder groß über das, was da hinter den Fassaden zuweilen zugange ist, darüber, was man dort denkt und dort macht. Nicht nur bei den schlagenden Verbindungen. Strukturen und zumindest Teile davon, wie sie in Parallelgesellschaften zu finden sind, die nun für öffentliche Diskussionen und Wut sorgen, sind überall zu finden. Und damit muss man nicht gleich Gruppierungen wie die Identitären als Beispiel in die Diskussion werfen, oder radikale Tierschützer oder Staatsverweigerer.

Selbst -und oft -auch in Kreisen, die gemeinhin als äußerst honorig gelten und die zumeist auch hoch angesehen sind, lebt man gerne in so etwas wie in Parallelgesellschaften. Man denke nur an kirchliche Gruppierungen in all ihren Schattierungen bis hin zum Opus dei. Auch in Zirkeln von politischen Parteien und Gruppen wird zuweilen intern ganz anders geredet, gelebt und diskutiert, als das in der Öffentlichkeit getan wird. Der Bogen reicht von den katholischen Kartellverbänden bis hin zu von Gerüchten umwobenen Gruppierungen wie den Freimaurern.

All diese und noch viel mehr Gruppierungen oder Abspaltungen auch von anerkannten und geschätzten Einrichtungen, die in einem guten Ruf stehen, zeigen in der einen oder anderen Form Merkmale von Parallelgesellschaften. Wenig transparent und meist im Verborgenen. Viele Menschen leben in ihnen und für sie. Es ist oft erstaunlich und zuweilen auch erschreckend, wenn sicht-und hörbar wird, was wo läuft und dort gedacht und geredet wird, wenn man unter sich zu sein glaubt. Und es ist nicht selten verwunderlich und oft auch erschreckend.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem, was die Menschen in diesem Land wirklich wollen. Welche Pläne und Absichten sie verfolgen. Wie einzuordnen ist, was sie sagen.

Es ist, bei Licht betrachtet, alles sehr österreichisch. Hierzulande lebt man immer schon in Parallelgesellschaften und auf doppelten Böden, wie immer man es nennen mag. Die Grenzen sind oft fließend und oft ist ein Augenzwinkern dabei. Oft freilich ist es auch zum Schaden der Gesellschaft, völlig inakzeptabel und auch gefährlich.

Aber das gehört wohl auch dazu. Zugeben mag das niemand. Zumal, wenn es um die Österreicherinnen und Österreicher selbst geht.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 23. Juli 2020

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