Donnerstag, 12. März 2020

Gegensätze und Paralellen



Es ist ein verstörendes Bild, das sich in den vergangenen Wochen entwickelte. Ein Bild voller Gegensätze, aber auch ein Bild voller Parallelen. Auf der einen Seite die anschwellende Angst vor dem Corona-Virus, die sich zu Hysterie steigerte und immer mehr Menschen in Europa um Gesundheit und gar Leben fürchten lässt. Und auf der anderen Seite die wachsende Verhärtung der europäischen Gesellschaft gegenüber Menschen, die vor einem fürchterlichen Krieg flüchten, die in Elendslagern stranden und dort als Spielbälle von Machtpolitikern elendiglich zu Grunde zu gehen drohen.

Innerhalb von wenigen Wochen hat sich unser Leben völlig geändert. Krisen und Katastrophen spielen sich nicht, wie man es zuletzt wieder gewohnt war, auf dem Fernsehschirm ab, sondern direkt vor unserer Haustür. Wir haben mit einer Virusepidemie zu tun, die viele Menschen zunehmend in Panik versetzt, die der Wirtschaft die Luft nimmt, den Alltag durcheinanderbringt und die noch viele massive Einschnitte bringen kann. Und wir haben wieder mit Menschen zu tun, die in ihrer Not nach Europa drängen. Die Bilder von den Menschenkolonnen aus 2015 tauchen wieder auf, Ängste kommen hoch und Wut auch. Und Verunsicherung vor allem.

Die vergangenen Wochen zeigten uns, wie dünn das Eis ist, auf dem wir unsere Party tanzen. Wie fragil das Wohlstandsnetz und der gesellschaftliche Frieden. Wie schnell alles vorbei sein kann und wie schnell sich alles wenden kann. Und diese Tage seit Ende Februar zeigen auch, wie sich da wie dort rächen kann, wenn man nicht rechtzeitig politische oder ökonomische Strategien entwickelt und sich stattdessen, wie Europa, lieber von früh bis spät mit sich selbst beschäftigt. Wenn man sorglos und oft allein aus Geldgier Werte wie die Eigenversorgung aus den Augen verliert und sich mitunter blindlings in Abhängigkeiten begibt, auf die man keinen Einfluss mehr nehmen kann. Es zeigt sich, wie schnell die internationale Verflechtung der Wirtschaft zu einer Selbstfesselung werden kann und mangelndes politisches Gewicht zu einer Bedrohung.

Dabei stehen wir wohl erst am Anfang von Entwicklungen, die noch viele Verwerfungen auslösen können, die auf die Politik aber auch auf jeden Einzelnen von uns zukommen. Welche politischen und gesellschaftlichen Spannungen wird es wohl noch geben? Welche Bilder werden wir noch zu sehen bekommen? Wie wird unsere Regierung damit zurechtkommen? Und wie Europa?

Dass unsere Gesellschaft praktisch von einem Tag auf den anderen in so große Schwierigkeiten stürzte und sich so offensichtlich schwer tut, mit den Problemen zurechtzukommen, hat wohl auch zu einem guten Teil damit zu tun, dass wir es uns angewöhnt haben, allzu gerne Verantwortung abzugeben wie ein Kleidungsstück an der Garderobe. Vor allem dann, wenn es um das Übernehmen unangenehmer Aufgaben ging, um schwierige Diskussionen und um klare Entscheidungen. Gerade die Probleme mit den Flüchtenden, die jetzt im wahrsten Sinne des Wortes wieder vor der Tür stehen, zeigen Abhängigkeiten von politischen Mächten, auf die man keinen Einfluss hat, weil man sich weigerte, selbst Verantwortung zu übernehmen und sich lieber mit sich selbst beschäftigte.

Von dieser Problematik hat man sich abgewendet, als vor drei Jahren der Flüchtlingsstrom wieder versiegte. Konzepte verschwanden in den Schubladen, Versprechungen gerieten in Vergessenheit, man überließ die Dinge wieder ihrem Lauf. Man machte lieber die Augen zu und hoffte, dass nie mehr wieder kommt, was 2015 und 2016 war. Nun aber scheint es wieder zu kommen, und manche meinen, es könnte noch mehr werden als damals.

Antworten, wie man damit umgeht, gibt es immer noch keine. Keine anderen als Blockieren und Wegschauen. Es könnte einem bang werden, wenn man das nicht für die einzig mögliche Reaktion und Politik hält, sondern glaubt, dass es zwischen den Zuständen an der südosteuropäischen Grenze und den Flüchtlingstrecks von damals etwas anderes geben muss.

Unsere Gesellschaft ist dünnhäutig geworden, eingelullt von Jahrzehnten, in denen sich das internationale Leben, die großen Krisen und die furchtbaren Katastrophen anderswo abspielten. Sie ist wohl auch bequem geworden. Dass sie sich schwertut, mit echten Problemen zurechtzukommen, mit denen wir wohl jetzt zu tun bekommen, ist da nur verständlich - und beunruhigend.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 12. März 2020

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