Donnerstag, 3. September 2015
Bürokratie als Staatsform
Eine bekannte und viel befahrene Straße zwischen zwei bekannten Orten in Oberösterreich. Eine Bundesstraße, ein unübersichtliche Kurve, ein zerbeulter Wagen mitten auf der Fahrbahn und ein zerdepschtes Motorrad. Daneben eine aufgeregte, weinende Frau und ein geschockter, aber ansonsten unversehrter Motorradfahrer. Ein Mann versucht die heranbrausenden Autofahrer zu warnen.
Anruf beim Polizei-Notruf. "Zwischen den zwei Orten ist ein Unfall passiert. Wir brauchen dringend Hilfe"."Wo?""Na auf der Bundestraße zwischen den beiden Orten.""Bei welchem Kilometer?""Na, weiß ich nicht. Zwischen den beiden Orten, da kann man eh nichts verwechseln.""Eher beim einen, oder eher beim anderen Ort?""Ich bitte Sie, warum wollen Sie das so genau wissen wissen? Wir brauchen dringend Hilfe.""Ich muss das wissen, es geht um die Zuständigkeitsgrenze."
Österreich, wie es jeden Tag ist. Beim Unfall in Oberösterreich, bei der Aufnahme der Flüchtlinge in Traiskirchen, in Ämtern, bei Ärzten. Die Bürokratie ist in diesem Land überall zuerst. Sie zerrt und zehrt an den Nerven, sie ist oft nichts als eine Zumutung, sie ist oft menschenverachtend und oft auch gefährlich. Zuerst Name, Adresse, Geburtsdatum und Geburtsort. Vorher geht gar nichts - gleich worum's geht. Und sei's um Gesundheit oder gar Leben.
Der Kampf gegen die Bürokratie in diesem Land geht über Jahrzehnte. Immer wieder unterhalten die Zeitungen das Publikum mit immer neuen Volten wie diesen: Da wird berichtet, dass in Wien schon einmal ein Juwelier wegen eines zu großen Hammers Schwierigkeiten mit der Aufsichtsbehörde bekam. Dort sorgte ein Nagelstock, wie man ihn von Skihütten kennt, für Schlagzeilen, weil ein Wirt weitab von Skipisten einen ebensolchen ohne gewerbebehördliche Änderung aufstellen wollte. Und in Klagenfurt verlangte dem Vernehmen nach die Behörde von einem Unternehmen in der Nähe des Flughafens für Bodenpflanzen, die maximal 15 Zentimeter hoch werden, ein Luftrechtsgutachten, um sicherzustellen, dass der Flugverkehr nicht behindert wird.
Wenn es nur alleine solche Abstrusitäten wären. In Österreich ist mitunter Bürokratie zur Staatsform geworden. Da sind die unzähligen Parallelstrukturen von Bund und Ländern, über die die Industriellenvereinigung nicht zu Unrecht als "Xerox-Föderalismus" lästert, weil in den Ländern ohnehin oft nur Gesetze aus Wien nochmals beschlossen werden. Und wenn das ausnahmsweise nicht der Fall ist, dann entstehen Unterschiede, über die man sich als Bürger nur verwundert die Augen reiben kann. Die Jugendschutzgesetze der Länder etwa zählen zu dieser Spezies und auch die Bauordnungen. Was dort erlaubt ist, ist hier verboten. Und das, obwohl alles Österreich ist.
Zu den Absonderlichkeiten in diesem Land gehören auch die 36 Dienstrechte für die öffentlich Bediensteten in Bund, Ländern und Gemeinden oder der 1.500 Zulagen umfassende Nebengebührenkatalog, der den Bediensteten der Stadt Wien zuweilen üppige Zuverdienstmöglichkeiten verschafft.
Aber all diese Vorwürfe, all diese Anprangerungen, all die Aufzählungen nutzen kaum. Die Fortschritte beim Bürokratieabbau sind kaum wahrnehmbar. Und gelingt irgendwo eine Vereinfachung, darf man sicher sein, dass gleichzeitig zumindest zwei neue Verkomplizierungen und ein noch dickeres Vorschriftenpaket entstanden sind. Kein Wunder, dass der gelernte Österreicher zusammenzuckt, wenn Politiker einen Abbau von Bürokratie ankündigen. Statt einfacher zu werden, wird alles immer noch komplizierter. Immer mehr will man wissen, immer detaillierter werden die Vorschriften. Immer größer der Papierkrieg.
Der Hausverstand, das Vertrauen, das Herz sind dabei längst unter die Räder gekommen. Und das nicht nur in den Ämtern und bei den Behörden. Auch in anderen Einrichtungen, wie dem Gesundheitswesen und auch selbst in den vielen Wirtschaftszweigen und Unternehmungen, die sich sonst so oft über die Bürokratie alterieren, hat man keine Hemmungen. Überall Papiere, Codes, Genehmigungen, Kontrollen, Unterschriften und Gegenunterschriften.
"Vurschrift ist Vurschrift" ist nach wie vor der wichtigste Leitsatz, nicht nur in der heimischen Verwaltung.
Und Zuständigkeitsgrenze ist Zuständigkeitsgrenze. Da nimmt nicht wunder, dass Österreich nicht mehr recht vorankommt. Vielleicht, weil sich niemand mehr zuständig fühlt - weil man nicht mehr weiß, wo die Zuständigkeitsgrenzen sind.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 3. September 2015
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