Alle reden mit einem Mal von entscheidenden Tagen für Europa. Der Präsident des EU-Parlaments sieht sich veranlasst, vor einer Zerstörung der Union zu warnen, der österreichische Bundespräsident auch, Kommentatoren ergehen sich in düsteren Szenarien. Die deutsche Regierung wankt, aus Italien kommen schroffe Töne. Lange schon nicht war die Unsicherheit und die Verunsicherung in Europa so groß.
Spannender könnte der Zeitpunkt kaum sein, an dem mit 1. Juli Österreich für sechs Monate den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernimmt. Auch wenn die Möglichkeiten eines Ratsvorsitzes nicht überschätzt werden sollten, die Verantwortung Österreichs und seiner politischen Führung ist dennoch eine sehr große. Und das nicht nur wegen der Situation, in der sich die Union nun befindet, sondern auch, weil Österreich derzeit, ganz anders als in den vergangenen Jahren, kein kleines Licht auf dem europäischen Politik-Parkett ist. Mit seinen prononcierten Vorstellungen zur Migrationspolitik und zum Umgang mit den Flüchtlingsströmen hat sich Kurz selbst und damit auch das Land, das er vertritt, in der EU zu einem Schwergewicht gemacht. Er ist eine der Speerspitzen im Richtungskampf in Europa, der von der Flüchtlingswelle vor zwei Jahren ausgelöst wurde. Er wird nicht nur von allen Seiten gefragt, er wird auch gehört und er kann die Linie maßgeblich mitbestimmen. Kurz ist derzeit der Star unter Europas Politikern. Viele wünschen sich so einen wie ihn, viele hören auf ihn, und viele von Europas Spitzen versammeln sich hinter ihm.
Das schmeichelt Österreichs Seele, namentlich der der Kurz-Anhängerschaft. Aber dennoch fragen sich nicht wenige verunsichert, ob Kurz auf der richtigen Seite steht, wenn er offen Sympathien mit den Visegrad-Staaten und ihren Vertretern wie Orban zeigt, wenn er Bayerns Markus Söder offen unterstützt, aber die deutsche Kanzlerin Merkel zu seiner Lieblingsfeindin gemacht hat und auch als Gegenspieler des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron gesehen wird.
Kurz mag viele Gründe für seine Positionierung haben, aber sie können auch Sorgen machen. Denn viele der Politiker, die in der Migrationsfrage auf der Seite von Kurz und Österreich sind, stehen für politische Inhalte, die sehr wenig mit denen zu tun haben, die unsere Demokratie und unser Politik-und auch unser Werteverständnis prägen. Denen demokratische Grundsätze und Einrichtungen wenig wert sind, die gegenseitige Anerkennung und Respekt gering schätzen, sondern die am liebsten auf den Tisch hauen und sich mit aller Macht durchsetzen. Und, das vor allem, die, auch wenn sie Gegenteiliges beteuern, in ihrem Innersten am liebsten die Europäische Union sprengen würden.
Genau da setzt die besondere Verantwortung von Kurz und des österreichischen Ratsvorsitzes an, den er entscheidend prägt. Gerade in der derzeit so heiklen Situation ist einzufordern, dass Österreich alles in seiner Macht Stehende tut, um den Erosionsprozess, der der Gemeinschaft so sehr zusetzt, nicht noch weiter zu befeuern. Die Sache Europa darf während des Vorsitzes und schon gar nicht durch den Vorsitz Österreichs noch weiter geschwächt werden, sondern sollte gestärkt daraus hervorgehen.
In keinem Moment darf auch nur der Anschein erweckt werden, dass es zu einem gemeinsamen Europa, zur Europäischen Union eine Alternative gibt. Viel mehr muss alles daran gesetzt werden, dass der Zusammenschluss der europäischen Staaten wieder als einzige Chance begriffen wird, die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Es geht dabei nämlich um weit mehr als um den Umgang mit den Flüchtlingsströmen. Es geht vor allem auch um die wirtschaftliche Zukunft und um die Position des alten Kontinents im weltpolitischen Gefüge.
Ob Kurz das zuzutrauen ist, wird immer öfter bezweifelt. Manchen gilt er mittlerweile sogar als so etwas wie der Elefant im europäischen Porzellanladen, andere reden davon, dass er dabei ist das Land zu entmündigen und die Anliegen seiner Bürger nicht mehr zu hören. Aus Brüssel ist von Irritationen über das Auftreten und Verhalten der Österreicher zu hören.
Das alles sollte nicht abgetan werden. Nicht von den Anhängern der neuen österreichischen Politik und auch nicht von den Akteuren und ihrem Chef. Die nächsten sechs Monate sind jedenfalls sehr spannend für die Österreicherinnen und Österreicher. Ganz besonders spannend aber sind sie für die glühenden Europäer unter ihnen.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 28. Juni 2018
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