Donnerstag, 21. August 2014
Türkise Infantilisierung
Ab sofort können die Wienerinnen und Wiener über die Farbe der künftigen U-Bahn-Linie U5 abstimmen", kündigte die Wiener die Wiener Stadträtin Renate Brauner dieser Tage an und fordert die Bevölkerung auf, ihre Meinung per Internet kundzutun.
Man schafft es immer wieder, Staunen zu machen, wozu Politik respektive Politiker in Österreich fähig sind und was sie für ihre Aufgaben halten. Bisher hielt man doch, was Parteisekretäre über den Originaltext-Service der APA gerne und so flächendeckend wie selbstentblößend verbreiten, als Markierungen für die Tiefpunkte, zu denen die Politik hierzulande fähig ist.
Aber es verwundert nicht. Die Infantilisierung und Banalisierung der Gesellschaft und ihres Lebens schreitet in nachgerade atemberaubenden Tempo voran. So sehr, dass es längst beschämend ist. Gewinnspiele aller Art, deren Fragen sich auf einem unsäglichen Niveau bewegen. Unterhaltungsangebote in allen Radio-und TV-Kanälen, in Urlaubsorten und auch sonst überall von oft komatöser Einfalt. Zeitungen übertreffen sich in Plumpheiten und der Handel führt längst der ganzen Nation vor, was man mit Menschen heutzutage alles anstellen kann. Wenn du am Montag kommst, bekommst du das Schnitzelfleisch um 30 Prozent billiger und bunte Blumenpunkte im Stickerheft, am Dienstag gibt es dicke Prozente für den Käse, am Mittwoch fürs Katzenfutter. Und von Donnerstag bis Samstag dann für Bier und Wein. Wohl dafür, dass man vergisst, wofür man sich in den Tagen zuvor zum Hampelmann machen ließ und um für das Da Capo in der folgenden Woche wieder vorbereitet ist.
Die ganze Gesellschaft ist längst in Geiselhaft genommen. Von der Politik, von den Medien, von der Wirtschaft. Schier nach Belieben wird mit den Menschen umgegangen. Gleich, ob sie gerade als Konsumenten, als Leser oder als Wähler daherkommen. Die Zumutungen kennen keine Grenzen mehr. Immer schamloser wird das Spiel getrieben. Die Vernunft findet kaum mehr Bahn in diesem ständigen Getöse von Infantilitäten, Banalitäten, Sonderangeboten, Kampfpreisen, Steuerversprechungen und Schlagzeilen, die nur schwarz-weiß kennen und jede Nuancierung vermissen lassen. Gar nicht zu reden von der Mitbestimmung bei der Farbe für eine U-Bahnlinie, die wohl als Ausdruck funktionierender direkter Demokratie gelten will.
Eine ganze Gesellschaft scheint konditioniert auf Schnäppchen und Sonderangebote, blind für Nuancierungen und dafür selbst etwas einzuschätzen oder sich gar auf sich selbst zu verlassen. Man lässt sich von den Gleichen, egal ob in der Politik oder der Wirtschaft, vor-und verführen, die einem Tag für Tag das Geld aus den Taschen ziehen, einen mit Produkten zumüllen und dann noch ein schlechtes Gewissen machen, weil man den Abfall nicht ordentlich trennt, den Haushalt nicht nachhaltig führt und ein Auto mit ein paar PS mehr als nötig fährt.
Mit Wonne scheint man sich zuweilen dem hinzugeben, was da immer ungenierter von der PR-Maschinerie in allen Einrichtungen vorgegaukelt wird. Schier jeder vermeint zu kurz zu kommen und etwas zu versäumen. Längst hat man das Beurteilungsvermögen abgegeben. Das gilt im Supermarkt genauso, wie wenn es darum geht, politische Versprechen zu beurteilen. Man greift allemal lieber zum "Zwei-für-Eins"-Angebot, auch wenn man es nicht braucht. Und glaubt gerne den Schalmeientönen von leichtfüßigen politischen Mundwerksburschen , die noch nie beweisen mussten, dass sie auch nur die geringste Fähigkeit haben, das umzusetzen, was sie gerne versprechen. Aber man lässt sich nicht davon abhalten. Und niemand ist willens in diesem Land die Diskussion darüber zu führen, warum das so ist. Das Geschäft geht allemal vor und auch das, was für Aussicht auf politischen Erfolg gehalten wird. Es gibt die Mahner nicht, die in die sich immer schneller drehenden Räder eingreifen wollen. Zumindest nicht die Mahner, die sich nicht vor politische Karren oder die Karren anderer Gruppen und Organisationen spannen lassen.
Den Boden haben diese Entwicklungen und diese Kultur wohl noch lange nicht erreicht. Dass das so ist, macht zuweilen Angst, zumal die Zukunft Anderes verlangt und in der Welt Anderes gefordert ist.
Und das ist sicher nicht, dass man, wie derzeit in Wien, mitbestimmen darf, welche Farbe die neue U-Bahnlinie haben soll.
Derzeit liegt angeblich übrigens türkis vorne. Nicht auszudenken, zu welchen Diskussionen es führt, wenn sich die Internet-Voter für die andere zur Wahl stehende Farbe entschieden - rosa.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 21. August 2014
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