Donnerstag, 22. Dezember 2016
Dünnes Eis
Die Festtagstische werden sich wieder biegen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute signalisieren Zuversicht. Alles paletti scheint es. Und doch: Das Eis ist dünn, auf dem wir in Europa Party machen und es uns gut gehen lassen. So dünn wie schon lange nicht mehr. Der Anschlag von Berlin führte das drastisch vor Augen.
Die Welt heute, zu Ende des Jahres, ist eine andere, als sie es noch zu Beginn 2016 war. Es ist das Jahr, an dem viel von dem zum Durchbruch kam, wovor seit Jahren gewarnt wurde, und viel von dem, was seit Jahren erwartet wurde.
Vieles von dem, was noch vor Jahresfrist als undenkbar galt, ist es heute nicht mehr. Vieles von dem, was für unmöglich gehalten wurde, ist auf einmal Wirklichkeit. Vieles, was man bewältigt glaubte, zeigt, dass es immer noch da ist. Die Tektonik der Macht scheint sich nachhaltig zu verschieben und die Ordnung, die in den vergangenen Jahrzehnte die Welt so recht und schlecht zusammenhielt, zum Auslaufmodell zu werden.
In den Vereinigten Staaten kommt ein Milliardär mit einem kruden Weltbild ins Weiße Haus, über den man noch vor Jahresfrist rund um den Globus wegen seiner Schrullen allenfalls schmunzelte. Russland kehrte in diesem Jahr mit Nachdruck auf die Weltbühne zurück, führte in Syrien die USA und Europa regelrecht vor und zeigte klar und unmissverständlich, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, dass es zu allem bereit ist, um an Gewicht zurück zu gewinnen. An der südosteuropäischen Grenze baut ein Staatspräsident sein Land unter dem hilflosem Staunen Europas zur Diktatur um. Und in Europa sind Dinge in Bewegung geraten, die die Einheit der Europäischen Union nachhaltig bedrohen. Großbritannien hat sich für den Austritt aus der Europäischen Union entscheiden, deren tragende Säule es immer war. In Deutschland wird an Angela Merkel und der Mehrheit ihrer Koalition gerüttelt. In Österreich und in vielen anderen europäischen Staaten stellen populistische rechte Parteien deutlich wie nie den politischen Führungsanspruch. Und in Brüssel sitzt eine hilflose wie unbeholfene Führung, der nicht mehr einfällt als, wie erst kürzlich EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, zu lamentieren, dass es "an allen Ecken und Enden" brenne.
Aber nicht nur die Politik sorgt dafür, dass das Eis dünn ist, auf dem wir Party machen. Auch die Wirtschaft hat nicht die Kraft, jene Zuversicht zu nähren, dass es so weitergehen wird, wie bisher. In Europa zeigt sich längstens nach dem Scheitern von Renzis Referendum Anfang Dezember, dass die Eurokrise alles andere als bewältigt ist und jederzeit ihre Fratze wieder zeigen kann. Die Arbeitslosigkeit ist ein unbewältigtes Problem. Und weltweit wird vielen angesichts der Börsen mitunter schwindlig.
Es ist in diesem Jahr viel von dem in der Wirklichkeit angekommen, was sich lange angekündigt hat, was man falsch eingeschätzt hat, worauf man nicht reagiert hat und von dem man geglaubt hat, es aussitzen zu können. Der Populismus hat die Oberhand gewonnen und damit die postfaktische Politik, die auf Gefühle und Instinkte abzielt, aber nicht auf Fakten und Lösungen. Social Media wie Facebook und Twitter kamen zum Durchbruch und mit einem Mal wird über Eliten diskutiert, über eine gespaltene Gesellschaft und über das "System". Und das mit einer Macht und Intensität und oft auch mit einer Gehässigkeit, wie seit Jahrzehnten nicht. Verachtung, Hass und Geringschätzung blitzen durch. Und es werden Töne angeschlagen, die kaum je bisher zu hören waren. Sogar Worte wie "Bürgerkrieg" waren auf einmal in der innenpolitischen Diskussion.
Man staunte und musste lernen, wie schnell sich die Gesellschaft polarisieren kann. Man musste erkennen, wie schnell sich auch in einem Staat wie Österreich die Dinge drehen könnten, wenn jemand ans Ruder geriete, der sich nicht an die Gepflogenheiten hält, die bisher den Staat zusammenhielten. Man staunte, wie schnell man inzwischen darüber nachdenkt, das Bundesheer für polizeiliche Aufgaben einzusetzen. Früher hätte das eine breite Diskussion ausgelöst und wäre Österreichs unselige Vergangenheit beschworen worden, heute denkt man sich vielerorts, wie etwa bei den ÖBB, nichts dabei.
Es ist wohl so, dass der Populismus weltweit seinen Durchbruch geschafft hat. Für jene, die überzeugt sind, dass damit noch schwierigere Zeiten kommen, ist das schlimm. Lange werden sie nicht alleine sein. Denn auch für jene, die sich derzeit darüber freuen, wird es schlimm werden.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 22. Dezember 2016
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