Donnerstag, 9. November 2017
Ein Land in der Umkleidekabine
85 der insgesamt 183 Mandatare des künftigen Nationalrates, die am Donnerstag dieser Woche angelobt werden, sind neu. Bei der ÖVP stellen die Neuen sogar die klare Mehrheit. Alleine diese Zahlen zeigen, dass die Wahlen am 15. Oktober in diesem Land ein tiefer Einschnitt waren -so wie auch die Verschiebung der Machtverhältnisse, der Wechsel von der ewigen großen Koalition, die den Menschen schon so auf die Nerven ging, zu einer, wie es aussieht, neuen Koalition, ein tiefer Einschnitt ist. Die Menschen hatten genug vom ewigen Herumnudeln, vom Aussitzen, vom Intrigieren und vom Blockieren. Sie wollten die Veränderung. Da nahmen und nehmen viele auch die FPÖ in Kauf. Hauptsache es wird anders, war die Devise. Nur nicht mehr das Alte.
Seither ist das Land freilich in einer eigentümlichen Stimmung. Die einen lecken die Wunden und haben Probleme die Realität irgendwie zu fassen. Die anderen spüren, dass sie die Stimmung nicht wie seinerzeit bei Schwarz-Blau I so sehr auf ihrer Seite haben, um damit eine Protestwelle im Land, aber auch auf internationaler Ebene auszulösen. Überall ist man damit beschäftigt, sich neu zu ordnen und sich zu sortieren. Es wirkt, als wäre das ganze Land in der Umkleidekabine, um sich auf das Neue vorzubereiten, das gewählt wurde.
Dass das Leuten wie Christian Kern schwer fällt, verwundert nicht. Sein Lamentieren über die verlorenen Wahlen will nicht enden. Der Schmerz und die Wut müssen ungeheuer tief sitzen. Von einem "Durchputzprozess" redet er und davon, dass die SPÖ "gute Chancen" habe "in fünf Jahren zurückzukehren". Nach wie vor ist keine Einsicht in die eigenen Fehler und die Fehler und auch Schwächen seiner Partei zu erkennen. Er scheint immer noch zu glauben, dass es die Wähler waren, die geirrt haben.
Wie verzweifelt die Stimmung sein muss, zeigt ein Tweet des Kern-Masterminds und Biographen Robert Misik, der nach dem Abtritt von Pilz allen Ernstes darüber jammerte, dass die SPÖ möglicherweise stärkste Partei geworden wäre, wäre Pilz bei den Grünen geblieben. "Hätte Pilz das Ergebnis des grünen Buko akzeptiert, wäre SPÖ möglicherweise stärkste Partei und Grüne mit wohl ca. 8 Prozent im NR", schrieb er in der Tat. Es war freilich bittere Häme, die er erntete. "Hätte meine Großmutter 4 Räder, wäre sie ein Autobus", wurde ihm entgegnet.
Der Seelenzustand der Grünen ist kaum ein anderer. Sie sind nicht nur geschlagen damit, mit einem plebiszitären und finanziellen Supergau fertig werden zu müssen. Dass just jener Peter Pilz, der sie mit seinem Wahlergebnis ins Out schickte, nun selbst stürzte, ist eine zusätzliche Ohrfeige, die in ihrer Bösartigkeit gar nicht zu beschreiben ist.
Nicht nur die beiden geschlagenen Parteien tun sich schwer, mit den neuen Verhältnissen zurechtzukommen. Selbst die Kommentatoren und Analysten im Land tun sich immer noch schwer, die Dinge neu einzuordnen. Und auch die, die sich jetzt als Opposition sehen. Die Angriffe wirken lau und meist halbherzig. Und werden doch Angriffe auf Strache oder auch Kurz versucht, verpuffen sie schnell und wirken hilflos und zuweilen weinerlich. Der Widerstand gegen eine schwarz-türkise Koalition mit den Blauen mag nicht in die Gänge kommen. Da hilft auch kein salopper Sager eines kanadischen Premierministers, der Kurz durch einen Vergleich mit Trump anpatzte.
Während rundherum also alle mit sich beschäftigt sind, scheinen einzig die Wahlsieger, Sebastian Kurz und HC Strache, zu arbeiten. "Mir ist es wichtig, dass wir rasch für Klarheit in Österreich sorgen", lässt Sebastian Kurz mediengerecht allerorten wissen und gibt den Takt vor. Bisher ist von einem Streit nichts zu hören. "Kuschelig" wird das inzwischen genannt. "Es hat so etwas noch nicht gegeben", zeigt sich selbst Professor Anton Pelinka überrascht.
Es wird möglicherweise freilich nicht so bleiben. Denn, mit dem Tsunami zurechtzukommen, mit dem Kurz die Partei durchschüttelte, fällt nicht wenigen in der ÖVP schwer. Das gilt für die Bünde genauso wie für die Landeshauptleute und Abgeordneten, die sich mit einem Mal in einer völlig anderen Umgebung finden. Das Grummeln wird lauter. Nicht nur die roten, auch die schwarzen Sozialpartner sind in hellem Aufruhr wegen der Veränderungen, die möglicherweise kommen. Und nicht allen sind Strache und die Freiheitlichen automatisch Freund.
Und das macht fraglich, ob denn auch alles so "kuschelig" bleibt, wie das derzeit von vielen empfunden wird.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 9. November 2017
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