Donnerstag, 18. Juni 2020

Die Wirklichkeit und die Befindlichkeiten



Die Überschrift "Der Höhenflug der ÖVP ist vorbei" wählte dieser Tage ein heimisches Politik-Magazin in seinem Newsletter. Wohl um für die Printausgabe Aufmerksamkeit zu erregen. Die Fakten rechtfertigen diese Einschätzung wohl nicht, wenn die ÖVP nun bei 44 Prozent und nicht mehr wie vor ein paar Wochen noch bei 47 Prozent liegt und die anderen Parteien im besten Fall 16 und 17 Prozent der Stimmen erreichen.

Aber auf diesem Niveau bewegt sich die politische Diskussion in diesem Land. Abseits der Realität und einer klaren Sicht auf die Dinge, zuweilen keinesfalls um Ernsthaftigkeit bemüht, sondern sehr viel eher um Quoten, Verkaufszahlen und Clicks. Da geht es nur mehr selten um Probleme und eine Gesamtsicht, sondern meist um eigene Interessen und um Gemeinheiten, die man anzubringen versucht. Gnaden-wie rücksichtslos wird übertrieben und die Wirklichkeit nach den eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten zurechtgebogen. Großes und Gutes wird klein-und schlechtgemacht, Mücken aber werden nachgerade lustvoll zu Elefanten aufgeblasen.

Ohne Panikmache scheint es nicht mehr zu gehen. Die Methoden, sich mit völlig überzogenen Meldungen Gehör verschaffen zu wollen, sind unerträglich geworden. Und sie tun nichts Gutes. Den Politikern und der Politik nicht, der Sache nicht und auch dem Land nicht. Twitter ist dabei einer der Brutkästen für dieses Klima der Bosheit und Intoleranz. Was eine tolle Plattform für auch pointierte Diskussionen sein könnte, ist meistens nicht viel mehr als ein Hasstribunal, das tiefe Blicke in die Seelen jener öffnet, die sich für Macher und Meinungsbildner halten in diesem Land und für die, die das Gute und Richtige auf ihrer Seite vermeinen.

Längst scheinen alle Relationen verloren gegangen zu sein. Dass man sich im Ton vergreift, scheint zum guten Ton zu gehören. Das ist längst nicht mehr nur dem Stammtisch vorbehalten oder Politikern einschlägiger Parteien und Journalisten einschlägiger Blätter oder irgendwelchen Beratern, die Aufträgen nachrennen. Längst macht sich dieser Ton auch in den Parteien breit, die sich für staatstragend halten. Und da ist noch gar nicht vom Luder-Sager die Rede, der das ganze Land in hechelnde Aufregung zu versetzen schien.

Da gab es dieser Tage etwa auch den Tweet des SP-Abgeordneten Kohlross, dem die geplante Einmalzahlung für Arbeitslose missfällt. Das sei ihm unbenommen und die Maßnahme ist durchaus wert diskutiert zu werden. Doch statt zu sagen, warum ihm das missfällt, und was er vorschlägt, nannte er die Pläne der Regierung gleich ohne Federlesens ein "sozialpolitisches Verbrechen".

"What's next?", fragte ein Abgeordneter der Grünen auf Twitter zurück, was sich angesichts solcher "Keulen" wohl viele fragen.

Viel zu selten, aber doch ist sogar auf Twitter zu finden, was zur Relativierung beiträgt. Als die Hysterie um Corona ihrem Höhepunkt zustrebte, war auch dieser Text dort zu finden: "Stell dir für einen Moment vor, du wärst 1900 geboren. Wenn du 14 Jahre alt bist, beginnt der 1. Weltkrieg und endet, wenn du 18 wirst mit 22 Millionen Toten weltweit. Kurz darauf beginnt die weltweite Pandemie der Spanischen Grippe mit 50 Millionen Todesopfern." Der Text nennt die Weltwirtschaftskrise und den Börsencrash 1929, den 2. Weltkrieg mit 60 Millionen Toten, den Koreakrieg und den Vietnamkrieg. Und schließlich heißt es, "Die Großeltern haben mehrere Kriege überlebt. Heute befinden wir uns mit allen Bequemlichkeiten der modernen Welt in einer Pandemie. Wir haben Strom, Handy, warmes Wasser und ein Dach über dem Kopf. Geschäfte und Unternehmen erhalten Hilfen vom Staat. All das gab es in früheren Zeiten nicht und doch haben es die Menschen überstanden und ihre Lebensfreude nicht verloren."

Der Text soll nicht die Probleme kleinreden, in denen jetzt viele stecken. Aber er kann dazu beitragen, Dinge vielleicht doch sachlicher zu sehen. Dazu beitragen, die Dinge richtiger einzuordnen, als dies die zur Kultur gewordene Hysterie, Zuspitzung und Übertreibung kann.

Es gilt wieder den Blick zu schärfen für das Wesentliche und die Dinge so einzuordnen, wie sie sind.

Es läuft, keine Frage, vieles nichts so, wie es laufen könnte und sollte. Und es läuft vieles auch richtig schief und ist verbesserungswürdig. Mit dem Niveau freilich, auf dem sich viele in der öffentlichen Diskussion bewegen, ist es wohl sehr schwierig, tatsächlich zu Verbesserungen zu kommen.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 18. Juni 2020

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
UA-12584698-1