Donnerstag, 26. November 2020

Der ganz normale Wahnsinn

Der Briefträger hat den Wahnsinn im Auto. Sein Kastenwagen ist bis oben hin gerammelt voll mit Paketen. Mit großen, mit ganz großen und mit zahllosen kleineren dazwischen. Und immer werden es noch mehr. "Sogar einen zwei Meter langen Baum samt Wurzelballen habe ich heute mit", sagt er. Er hat es irgendwie geschafft, ihn zwischen all die Pakete hineinzuzwängen. "Das ist ein Wahnsinn", stöhnt er. Und es ist ihm nur recht zu geben.

Aber der Wahnsinn ist verständlich. Es geht wohl nicht anders. Die Geschäfte haben zu, Weihnachten steht vor der Tür und Rabatte locken. Da fallen die Hemmungen schnell, zumal ja gar nicht sicher, ob vor Weihnachten wirklich noch die Geschäfte aufgemacht werden. Mit unabsehbaren Folgen. War das Internet schon bisher eine überstarker Konkurrent für viele im heimischen Handel, so droht heuer die Situation regelrecht zu kippen, weil die Konsumenten im Lockdown kaum Alternativen haben. Und das kann für viele Firmen desaströse Ausmaße annehmen.

Dabei steht man erst am Beginn des Wahnsinns, der in dieser Woche mit der Black Week startete, Ende der Woche im Black Friday als internationalen Schnäppchentag gipfelt und dann nahtlos in das Weihnachtsgeschäft übergeht, das sich heuer wohl mehr denn je online abspielen wird. "Der Onlinehandel ist seit Jahren auf dem Vormarsch", heißt es in Analysen. "Die Coronakrise hat scheinbar alle Dämme brechen lassen: Während stationäre Händler massiv verlieren, wachsen Onlineanbieter zweistellig." Schon im Vorjahr kutschierten Post und Paketdienste allein im Dezember nicht weniger als eine Million Pakete durchs Land. Es ist wohl davon auszugehen, dass heuer die bisherigen Zahlen abermals deutlich übertroffen werden. "Die Verbraucher dürften heuer weniger die Innenstädte fluten, sondern mehr online kaufen", heißt es allerorten. Könnte durchaus sein, dass Corona den endgültigen Sieg des Online-Handels markiert.

Aber nicht nur das. Es gibt auch vielen heimischen Handelsbetrieben endlich den Digitalisierungsschub, den sie längst gebraucht hätten, um sich gegen die internationalen Riesen zu behaupten. Es steht zu hoffen, dass Corona auch in diesem Bereich, in dem man schon so viel Terrain verloren hat, dass sich Existenzängste breit machten, eine Wende markiert. Denn angesichts des Drucks versuchen inzwischen immer mehr Unternehmen dagegenzuhalten, bauen in aller Eile einen Versand ihrer Produkte auf, setzen auf Service und Nähe und sehen das oft so angefeindete Internetgeschäft als den einzigen Weg zu den Kunden.

Es ist oft bewundernswert, was da in aller Eile auf die Beine gestellt wird. Rund 5.000 Webshops gibt es inzwischen in Österreich, dazu eine ganze Reihe von E-Commerce-Plattformen, die versuchen das Angebot der Unternehmen zu bündeln und Internet-Kunden zu österreichischen Anbietern zu lenken. Von Shöpping.at bis hin zu Kauf regional. Für den Handel und andere Unternehmen auch, die nun auch online ihre Produkte und Dienste anbieten, ist das ein Qualitätssprung, der nicht hoch genug geschätzt werden kann.

Vor Illusionen sei dennoch gewarnt. Auch die tollsten Konzepte und Innovationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass man dennoch oft auf verlorenem Posten steht. Selbst große Unternehmen tun sich schwer, sich zu behaupten. Diese Entwicklung braucht angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse mehr Aufmerksamkeit von der Politik. Denn es geht nicht nur um wirtschaftlichen Erfolg und den Schutz vor übermächtiger Konkurrenz, sondern auch um die vielen dunklen Flecken des Booms. Dauergestresste Kurierdienste sorgen für eine zusätzliche Verkehrsbelastung, mehr CO2-und Schadstoffausstoß und jede Menge Verpackungsmüll. Der zumindest ließe sich beschränken, würde mit vielen Packungen nicht vor allem Luft transportiert, weil sie viel zu groß sind für die Dinge, die in ihnen geliefert werden.

Aber davon redet niemand, schon gar nicht, dass es Anstalten gäbe, diese Entwicklung zu begrenzen. Die Politik ist gefordert, steuernd einzugreifen, Fehlentwicklungen in den Griff zu kriegen. Genauso wie von den Konsumenten Verantwortung einzufordern ist. Denn letztendlich sind sie es, die mit ihrem Verhalten und der Jagd nach immer noch billigeren Schnäppchen den ganzen Wahnsinn erst ermöglichen und Entwicklungen lostreten. Schon vor Corona. Und seit Corona erst recht.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 26. November 2020

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