Die politische Mitte ist dabei, zum Phantom der Politik zu werden. Alle reden davon und behaupten sie zu vertreten. Aber wo sie zu verorten ist, vermag niemand wirklich zu sagen. Zu lange ruhte sie in sich. Und nun weiß niemand mehr, wo sie ist. Vor allem ist sie dabei, an Bedeutung und Gewicht zu verlieren im Spiel der Kräfte. Und das nicht nur, weil die Ränder immer stärker werden, sondern vor allem wohl deswegen, weil sich die Mitte nicht rührt. Und wenn sie sich rührt, dann zeigt sie nicht Stärke, Orientierung und Selbstbewusstsein, sondern verschiebt die Grenzen dorthin, wo sie meint, dass es links oder rechts etwas zu holen gibt.
Dabei wäre die politische Mitte nach wie vor für die große Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher die geistige und seelische Heimat. Mit extremen Standpunkten hat man es an sich nicht hierzulande, schon gar nicht mit extremen Ideologien. Diese Zeiten sind lange vorbei. Das Laute und den Streit mag man eigentlich nicht. Man schätzt den Kompromiss, den Mittelweg und sachliche Lösungen ohne großen Wirbel. Leben und leben lassen. Gut gehen soll's halt allen und kosten soll's nicht viel. Und das in Sicherheit und in Ruhe. Man will sich wohlfühlen, ohne viel dafür tun zu müssen.Genau das aber ist wohl das Problem der Politik in der Mitte und für die Mitte. Die Mitte ist kaum greifbar. Die Mitte lässt machen. Die schweigende Mehrheit, die alles zulässt, zuweilen zwar jammert -die aber vor allem immer nur zuschaut und machen lässt. Man meint, der Wohlstand und die Sicherheit wüchsen auf den Bäumen und die Demokratie auch -einsetzen will sich niemand dafür. Apathie gleichsam als Lebenshaltung.
Die Parteien der Mitte tun sich schwer mit dem, wie sich das in den vergangenen Jahren entwickelt hat. In einem solchen Umfeld übersieht man schnell Leute, die sich übergangen fühlen und zu kurz gekommen. Der Scherbenhaufen ist mittlerweile groß.
Heute muss man hilflos zuschauen, wie immer mehr Menschen an der politischen Empörungswirtschaft Gefallen finden, die Parteien wie die FPÖ betreiben und wie sogar eine kommunistische Partei reüssiert. Viele der Menschen aber, die eigentlich die Mitte wären und die Mitte bleiben wollen, finden sich und ihre Anliegen immer noch nicht wirklich vertreten. VP-Wähler nicht durch abstruse Leitkultur-und Normalität-Kampagnen. Und SP-Wähler nicht durch den Klassenkampf gegen Hausbesitzer und die, die etwas Geld auf der hohen Kante haben -zu leicht könnten die Pläne des neuen Parteichefs viele von ihnen selbst erwischen.
Über Jahre hat man die Mitte verschwendet. Man hat sich Entwicklungen verweigert und auf die Leute vergessen. Viel lieber hat man sich mit dem eigenen Fortkommen beschäftigt als mit dem, was die Leute wollten und was Politik für die Mitte hätte tun müssen. Vor lauter Schielen auf die Ränder hat man die Mitte aus den Augen verloren. Auch wenn man immer wieder davon redet. Dort aber rätseln Wählerinnen und Wähler herum, wen sie wählen sollen und fragen sich, ob sie denn überhaupt oder ob sie nicht doch besser daheimbleiben sollen.
Wenn Bundeskanzler und VP-Obmann Nehammer sagt "Wir sind verpflichtet, dieser Mitte die Bedeutung zu geben, die sie hat", ist das längst keine Ansage mehr auf die alle längst gewartet haben, sondern steht im Geruch eher Ausdruck der Hilfslosigkeit zu sein. Man hätte in den vergangenen Jahren alle Zeit der Welt gehabt. Nicht nur die ÖVP, auch die SPÖ oder die Liberalen. Man hat sie aber nicht genutzt. Stattdessen hat man sich nach allen Regeln der Kunst gegenseitig bekämpft und schlecht gemacht, bis aufs Blut gestritten. Der Kompromiss wurde geächtet, das Eigene über das Gemeinsame gestellt. Brücken wurden abgerissen. Was unter Schüssel begonnen hat, hat Kurz eineinhalb Jahrzehnte später zur Kulmination gebracht und wurde von den anderen Parteien nachgemacht.
Den Weg zurück und wieder Halt zu finden ist schwierig. "Keiner hat alleine die reine Weisheit. Man muss daher alle hören. Ich bin nie ein Ausgrenzer gewesen. Vertragt euch, muss es heißen. Man muss bereit sein, von eigenen Vorstellungen abzuweichen", sagt dieser Tage der oberösterreichische Altlandeshauptmann Josef Ratzenböck in einem Interview mit den OÖ Nachrichten aus Anlass seines 95. Geburtstags. Für die politische Mitte könnte das eine Anfang für eine gute Zukunft sein -und für die vielen, die sich in der politischen Mitte übersehen fühlen, eine Hoffnung.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 25. April 2024
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