Die Bundesrepublik Deutschland wird in der kommenden Woche 75. Die Wochenzeitung "Die Zeit" nahm das Jubiläum zum Anlass für eine, wie sie es nennt, "unordentliche Inventur" und stellte eine ganze Ausgabe des Magazins unter das Motto "75 Sachen, die bleiben sollen, 75 Sachen, die sich verändern müssen". Der Themenbogen reicht von der Bundesverfassung, über soziale Errungenschaften, Gleichberechtigung, Pressefreiheit bis hin zur deutschen Wurst und deren Qualität, die besser sein könnte. Diese Inventur referiert nicht nur Stärken und Defizite, sondern auch das, was Deutschland und die Menschen, die dort leben, ausmacht und was sie abseits von Diskussionsrunden im Fernsehen, von politischen Auseinandersetzungen und den Meinungen in Leitartikeln bewegt.
In Österreich steht in absehbarer Zeit kein vergleichbares Jubiläum an. Aber im Vorfeld der Europawahlen Anfang Juni und der Nationalratswahlen im Herbst und vor dem Hintergrund der politischen Debatte, respektive Nicht-Debatte, stünde unserem Land durchaus auch so eine "unordentliche Inventur", wie die "Zeit" sie nennt, gut an.Was macht Österreich aus und die Leute, die in diesem Land leben? Was schätzen sie und was wollen sie geändert sehen? Was lieben sie und was möchten sie nicht missen? Und was fehlt ihnen?
All das spiegelt sich in der öffentlichen Diskussion kaum mehr wider. Viel eher drängt sich der Eindruck auf, als herrschten nur Frust, Neid, Eifersucht, Wut und Hass. Was aber Österreich ausmacht, wird nicht mehr geschätzt. Viel zu oft vergessen und madig gemacht von einer Gesellschaftskultur, die nur mehr auf Konfrontation gebürstet zu sein scheint. Die großen Linien hat man längst aus den Augen verloren, gar nicht zu reden von großen Zielen, die man anstreben will.
Dabei gibt es dem Duktus der "unordentlichen Inventur" folgend auch in Österreich sehr viel, was wir behalten sollten. Obwohl man oft einen ganz anderen Eindruck haben könnte. Die Verfassung etwa gehört dazu, die parlamentarische Demokratie oder die EU-Mitgliedschaft. Auch die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen, auch wenn sie oft mühsam sind, gehören dazu und vieles andere mehr. Auch der alles in allem doch gut ausgebaute Sozialstaat, das im Großen und Ganzen funktionierende Gesundheitssystem und das Pensionssystem, das bei aller Kritik weitaus besser ist als anderswo. Die Infrastruktur von der Stromversorgung bis zum öffentlichen Verkehr ermöglicht ein passables Leben. Auch die Umwelt ist einigermaßen in Ordnung, das Wasser und die Gewässer auch. Um den Kulturbetrieb beneidet man uns und um die Hochkultur erst recht. Gar nicht zu reden von den Bergen und den Skifahrern. Und wir sind zu Recht stolz auf die Schönheit unseres Landes. Zu Österreich und dem, was bleiben sollte, gehören aber auch längst Döner, Hamburger, Jeans, iPhones und Voodoo Jürgens - so wie Wirtshaus, Leberkäse und Almdudler.
Alles zusammen macht Österreich und unser Lebensgefühl aus -und ist sehr viel mehr, als sich im öffentlichen Diskurs spiegelt.
Freilich kann man auf manches verzichten, und freilich gibt es vieles, was verändert respektive besser gemacht werden muss. Wir alle kennen die Notwendigkeiten. Vom Pflegenotstand, über die Bürokratie bis hin zu Postenschacher und Freunderlwirtschaft. Über die Diskurs-Kultur gehört geredet, über die Selbstverantwortung und über den Umgang miteinander, über Achtung und Respekt auch. Und über Gleichbehandlung. Worum es geht, ist nicht, permanent sich darüber zu echauffieren, um daraus in irgendeiner Form politisches Kapital zu schlagen. Worum es geht, ist alles dran zu setzen, an Verbesserungen auf allen Linien und auf allen Ebenen zu arbeiten.
An diesem Klima und an diesem Bewusstsein dafür fehlt es derzeit freilich. Es fehlt an der Ehrlichkeit in der Auseinandersetzung um die großen Fragen wie Pensionssicherung, Bildung, Klima und Umwelt oder Zuwanderung und vielem anderen mehr. Ideologische Scheuklappen, Neid oder das Schielen nach Wählern blockieren notwendige Schritte. In der Politik genauso wie in der privaten Welt.
Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit und weniger Aufgeregtheit. Und mehr Offenheit. Genau darum könnte so eine "unordentliche Inventur" wertvoll sein. Viel wert-und wohl auch sinnvoller jedenfalls als das ganze Getue und Gezeter rund um eine Leitkultur, die jede Ernsthaftigkeit vermissen lässt und nur die Maximierung von Wählerstimmen im Auge hat.
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