Donnerstag, 19. Juli 2012
Das Lahme der Demokratie
Die Europäische Union samt ihrer Währung schlingert wie ein leck geschlagener Kahn durch ein Meer an Problemen. Seit nun schon vier Jahren tröstet man sich von einer schlechten Nachricht zur anderen, von einem Krisengipfel zum anderen und klammert sich an jeden Strohhalm, auf dass die Nerven nicht das Flattern kriegen.
Immer klarer wird nach all den enttäuschten Erwartungen und Hoffnungen aber, dass das noch lange nicht zu Ende ist. Immer greifbarer wird, dass Politik und Wissenschaft überfordert sind mit der Dimension der Aufgabe, dass es dafür kein Beispiel in der Geschichte gibt, an dem man sein Handeln orientieren könnte und dass es vor allem kein einfaches Rezept gibt, die Probleme in den Griff zu bekommen. Das schon gar nicht. Mehr noch, die Sünder scheinen das Ruder im Kampf gegen die Krise zu übernehmen. Italien, Frankreich und Spanien haben mit einem Mal die Oberhand, die Deutschen hingegen stehen mit dem Rücken zur Wand.
Die Politik ist sich uneins und auch die Wissenschaft. Längst haben sich da wie dort Lager gebildet, die einander unerbittlich gegenüberstehen, sich gegenseitig behindern und schlecht machen. Abgehoben und zurückgezogen fallen Entscheidungen in uneinsehbaren Parlamentsgängen, in geschlossenen politischen Zirkeln, in den sprichwörtlichen Elfenbeintürmen der Wissenschaft, in Brüssel, in Berlin, in Paris, auch in Wien.
Der deutsche Bundespräsident Gauck war es, der Kanzlerin Merkel mahnte, den Menschen besser zu erklären, was wirklich läuft. Was gemacht wird, was all die Beschlüsse, in denen es um unvorstellbare Milliardensummen geht, für die Leute bedeuten, für die Wirtschaft daheim, für den Arbeitsplatz und vor allem für die Zukunft, für die Jugend.
Gaucks Vorstoß, und dazu die Befassung des Verfassungsgerichtshofs in Deutschland mit den ESM-Beschlüssen, sind Ausdruck dafür, dass die Wirtschafts- und die Eurokrise nicht nur Krisen der Wirtschaftspolitik sind. Längst sind sie Krisen der Politik insgesamt respektive der Demokratiepolitik und - das vor allem - ihres Instrumentariums.
Daher rüttelt die Krise mittlerweile an den Grundfesten des demokratischen Systems, denn das kommt mit seinen Instrumenten mit dem Tempo der Krise ganz offensichtlich nicht mehr mit. So wie die meisten Staaten es eingerichtet haben, ist Demokratie ein dröges, langwieriges und zähes Geschäft, das viel Zeit verlangt. Lesungen, Ausschusssitzungen, Plenarsitzungen, Abstimmungen, Volksbefragungen gar brauchen viel zu viel Zeit für das Umfeld, in dem die europäische Politik derzeit so dringend Lösungen finden muss. Zeit, die die Politik für die Eurorettung oft nicht hat. Viel zu lange dauern zumeist die vorgesehenen Beschlusswege durch Parlamente und Ämter. Viel zu oft müssen die Politiker in der derzeitigen Krise daher unter Missachtung der demokratischen Spielregeln nolens volens den kurzen Weg gehen, um von den Entwicklungen nicht vollends überrollt zu werden.
Politischen Mandataren, die nicht gefragt werden, immer mehr Menschen insgesamt, ist dabei zunehmend unwohl. Verständlicherweise. Kein Wunder ist daher, dass die Diskussion um die Einbindung der Parlamente und der Wähler immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die Forderung nach Mitsprache und Mitbestimmung wird lauter. Die Entscheidungsträger ganz oben tun sich schwer damit. Allerorten. Hat man Angst vor zu viel Demokratie? Dies ist die Frage, die immer öfter zu hören ist.
"Ja“ ist wohl die Antwort, die darauf zu geben angesichts der derzeitigen Ausgestaltung der demokratischen Prozesse einerseits und der Eile, in der oft Entscheidungen fallen müssen. Die demokratischen Systeme sind in weiten Bereichen, zumal in wirtschaftlichen Belangen, kaum vorbereitet auf das, was die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit“ so treffend "Sofortismus der Märkte“ nennt.
Nie und nirgendwo hat man sich darum gekümmert, um dafür taugliche demokratische Instrumente zu entwickeln. Jetzt ist der Druck hoch. Die Herausforderung dabei ist eine große. Es geht darum, die demokratische Qualität beizubehalten, gleichzeitig aber rasche Entscheidungen zu ermöglichen, die auch den erhöhten demokratischen und demokratiepolitischen Anforderungen standhalten - auch in Zeiten solcher Krisen, wie wir sie derzeit haben. Und das möglichst schnell. Bisher glaubte man ohne zurechtkommen zu können. Das rächt sich jetzt. Immer mehr.
Meine Meinung, Raiffeisenzeitung, 19. Juli 2012
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