Donnerstag, 23. Oktober 2014
Europäische Feistigkeit
Das Zitat, dass Österreich eine Insel der Seligen sei, wird Papst Paul VI zugeschrieben. Es datiert aus den 1960er Jahren und viele Österreicherinnen und Österreicher glauben, dass das auch heute noch so ist. Alles in allem, allen Raunzereien, Wehklagen und Besserwissereien zum Trotz, ist ihnen durchaus recht zu geben. Wir leben gut. Der Lebensstandard ist hoch. Die allermeisten Österreicherinnen und Österreicher dürfen sich über sichere Arbeit, geregeltes Einkommen, eine warme Wohnung, eine dichtes Sozialnetz und Zugang zu Bildung freuen. Und auch an wohlgedeckten Tischen fehlt es nicht. Morgens ein Butterbrot zum Kaffee, Mittags ein Schnitzel und abends ein Flasche Bier oder ein Achterl Wein vorm Fernseher. Kurzum - ein sattes Land mit satten Bewohnern, die sich mit großer Innigkeit sich selbst und ihrem Fortkommen widmen und einer sicheren Pension entgegenleben können.
Das Eis freilich ist dünn, auf dem Herr und Frau Österreicher ihren Wohlstand genießen. Und das nicht nur wegen schlechter Konjunkturaussichten und der Schräglage der öffentlichen Haushalte, die in den vergangenen Jahren zu einer ernsthaften Bedrohung des Wohlstandes geworden ist. Das Eis ist auch dünn, weil sich die großen weltpolitischen Konflikte mit einem Mal nicht mehr irgendwo weit hinten in der arabischen Welt, in Afrika oder in Asien abspielen. Diese Zeiten sind offenbar vorbei. Mit großem Säbelrasseln steht mancher weltpolitische Konflikt mit einem Mal vor der Haustür und führt drastisch vor Augen, wie fragil unser aller Wohlstand ist.
Russlands Präsident Putin spielt mit der Ukraine, deren Grenze wenige hundert Kilometer von Österreich liegt und das wirtschaftlich eng mit Österreich verbunden ist, ein undurchsichtiges Spiel. Die Todesschwadronen des Islamischen Staates stehen an der Grenze zur Türkei und haben Österreich erklärtermaßen gar als Angriffsziel im Visier. Und auf dem Balkan lodert das nationalistische Feuer immer wieder mächtig auf, wie in der vergangenen Woche der Flug der Drohne beim EM-Qualifikations-Spiel in Belgrad zeigte.
"Wir sind nicht mehr in sicherer Distanz zu Konflikten", hieß es dieser Tage in einem Leitartikel einer großen Tageszeitung. "Wir werden von den Weltkrisen eingeholt."
Vor allem der Konflikt mit Russland führt vor Augen, wie fragil die Lage ist. An den Stammtischen - und nicht nur dort - wird diskutiert, was passiert, wenn Putin ernst macht. Gedanken daran, wie schnell eigentlich alles kaputt sein kann, woran man sich so gewöhnt hat, keimen auf. Manche nehmen inzwischen das Wort Krieg in den Mund. Wie will sich Europa wirklich wehren, fragt man sich, wenn wirtschaftliche und politische Sanktionen nicht greifen? Was kann man dann tun, wenn jahrzehntelang gelernte und vermeintlich zur politischen Kultur gewordene Muster nicht mehr funktionieren?
Sich solchen Fragen stellen zu müssen, passt nicht in das Denken der Europäer, die sich so gerne aufgeklärt und auch überlegen geben und die dabei vielleicht doch nur schwach, ideenlos, ohne Herz und selbstbezogen sind.
Seit fast siebzig Jahren kannte man eine solche Situation nicht mehr. Zwei, drei Generationen wuchsen im Frieden auf. Erinnerungen daran, dass das auch ganz anders sein kann, lebten allenfalls in Fernseh-und Buchdokumentationen weiter. Wie hart Leben wirklich sein kann, wie schlimm kriegerische Zustände, fiel langsam und stetig dem Vergessen anheim. Man machte die Augen zu, verweigerte sich zunehmend politischen Realitäten und Konflikten, zumal in Ländern, die fern schienen, und koppelte sich stetig von der internationalen Entwicklung ab und floh zuweilen nachgerade die Verantwortung dafür.
Das politische Klima, das in den vergangenen Jahrzehnten in Europa und in Österreich entstand, hat alle Anzeichen einer wirtschaftlichen und sozialen Feistigkeit. Selbstzufrieden und herablassend. Vielerorts verlor man die Relationen und begann gar die Strukturen, die genau diesen langen Frieden und den Wohlstand in Europa sicherten, anzugreifen. Die Anfeindungen gegen die EU oder gegen internationale Organisationen sind Beleg dafür. Damit lassen sich heute jede Menge Stimmen machen.
Was kommt, wird sich in den nächsten Monaten weisen. Was in den vergangenen Monaten geschah, mahnt jedenfalls zu Wachsamkeit. Gegenüber Europa und gegenüber allen Konfliktherden, die den hiesigen Wohlstand und die damit einhergehende Bequemlichkeit zu bedrohen scheinen.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 23. Oktober 2014
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