Donnerstag, 11. April 2019

Grenzen lösen sich auf



Die österreichische Innenpolitik ist voller Merkwürdigkeiten. Türkis-blau ist fixiert auf die Abwehr von Flüchtenden und lässt sich nicht davon abbringen, obwohl die Zahl der Asylsuchenden inzwischen weit niedriger ist als in den Jahren vor dem Beginn der Syrienkrise und der großen Migrationsbewegung im Jahr 2015. Man will an Grenzkontrollen festhalten und, wohl aus politischem Kalkül, auch am Bedrohungsszenario und hat keine Hemmungen die Paranoia, die bei vielen im Land herrscht, weiter zu füttern. Die SPÖ-Chefin ruft in Interviews, wohl um dem Innenminister zu schaden, ein Sicherheitsproblem aus, das das Land habe, während in den Medien zu lesen ist, dass sich die Österreicherinnen und Österreicher noch nie so sicher fühlten wie heute. Und die FPÖ geriert sich als die Arbeiterpartei, die die SPÖ noch immer zu sein vorgibt, obwohl sie das längst nicht mehr ist.

Diese Reihe lässt sich schier nach Belieben fortsetzen. Die politische Ordnung samt dem Koordinatensystem, das Orientierung ermöglichte, scheint durcheinander gekommen zu sein.

Positionen sind oft nicht mehr zuordenbar. Politisches Kalkül und Pragmatismus sind dabei, ideologische Grenzen aufzulösen. Wohl auch, weil die damit verbundenen Rezepte von seinerzeit nicht mehr für die Lösung der Probleme von heute geeignet scheinen.

Längst spekulieren selbst Kommentatoren wie Andreas Koller von den Salzburger Nachrichten oder Christoph Kotanko von den OÖN, die unverdächtig sind, zum Hyperventilieren zu neigen, dass "die alten politischen Grenzlinien nicht mehr gelten", wie es in einer Zeitung unlängst hieß. Die "holzschnittartige Annahme", dass SPÖ und Grüne links stehen und die ÖVP und die FPÖ rechts, sei in dieser Form nicht mehr aufrecht zu erhalten.

Da und dort versteigt man sich sogar zu der Behauptung, dass türkis-blau, in Teilen zumindest, gar klassische sozialdemokratische Politik macht und hat dafür durchaus auch Argumente. Den Familienbonus nennt man dann, oder die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Schlechtverdiener. Auch den Papamonat zählt man dazu. "Samt und sonders steuerfinanzierte Wohltaten, die einem roten Regierungsprogramm entstammen könnten", merkt man süffisant an.

Sogar in der Wirtschaftspolitik nimmt türkis-blau Positionen ein, die einst zentrales Gedankengut der Sozialdemokratie waren. Kurz und Strache wollen wieder den Einfluss des Staates in den staatsnahen Betrieben verstärken. Mit der Privatisierung, mit der ihre Vorgänger die Unternehmen der Verstaatlichten aus dem oft unseligen Einfluss des Staates befreiten, haben sie wenig Freude. Sie wollen wieder mehr mitreden und mehr Einfluss nehmen. Auf der anderen Seite nimmt sich die SPÖ inzwischen Themen an, die immer den Konservativen zugeschrieben wurden. Oder wie ist anders zu erklären, dass man sich mit einem Mal Sorge um die Mitglieder der evangelischen Kirche machte, die am Karfreitag nicht mehr die Vormittagsmesse besuchen können? Oder dass sich die Parteivorsitzende um die Geheimdienste des Landes und ihre internationale Isolierung als Folge des BVT-Skandals besorgt zeigt? Und es fügt sich in diese Linie, dass ausgerechnet die Sozialdemokraten bei der Sozialversicherungsreform als Hüter jahrzehntealter Strukturen auftraten. Und dazu passt, dass manche Teile der SPÖ, wie etwa Burgenlands Doskozil, aber auch andere Granden der Partei, in der Migrations-Frage Positionen einnehmen, die sich in nichts von jener der türkis-blauen Regierung unterscheiden, aber sehr wohl von dem, was lange Parteilinie war.

Noch ein Beispiel zeigt, dass die Kategorien links und rechts in der Politik nicht mehr viel gelten. Ein Kommentator formulierte das so: "Wenn 'linke' Politikerinnen öffentlich die Meinung vertreten, dass man es konservativen islamischen Familienvätern nicht verbieten dürfe, ihre Töchter mit Kopftüchern zu verhängen, kommen überhaupt sämtliche ideologische Gewissheiten ins Rutschen." Auch wenn es gewöhnungsbedürftig sein mag, damit zurechtzukommen -schlecht ist diese Entwicklung und die Diskussion darüber nicht immer. Diese Art von Pragmatismus steht diesem Land gut, das über Jahrzehnte von in ideologischen Positionen gefangenen Parteien regiert wurde -bis schlussendlich nichts mehr ging. Voraussetzung freilich ist, dass sie von ernsthaften und ehrlichen Motiven getragen ist und nicht nur vom Schielen auf Wählerstimmen. Zweifel daran müssen allerdings erst zerstreut werden.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 11. April 2019

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
UA-12584698-1