Donnerstag, 4. April 2019

"Wir sind Vergangenheit"



Wir machen uns in diesen Wochen lustig darüber, wir ärgern uns, wir schütteln den Kopf darüber und wir wundern uns nur mehr. Und man kann das Wort schon gar nicht mehr hören. Bei allem Ärger, bei aller Häme und bei aller Verwunderung sollte man nicht außer Acht lassen, dass der Brexit für Europa, für uns in Österreich und wohl auch für die Weltwirtschaft das bedeutendste wirtschaftliche und politische Ereignis der vergangenen Jahrzehnte ist.

Österreichs EU-Abgeordneter und VP-Spitzenkandidat Othmar Karas leitete dieser Tage einen Tweet seines britischen Kollegen Richard Ashworth weiter mit der Anmerkung: "Spricht mir aus dem Herzen." Der Brexit sei eine Warnung an die Völker Europa, hieß es da. "Keine Generation hatte je so lange Frieden und so hohen Wohlstand wie ihr." Und: "Denkt niemals, das ist selbstverständlich! Schätzt das, kämpft dafür und verteidigt das -jeden Tag!", schrieb er. Der Appell kommt nicht zur Unzeit. Europa wankt und mit Sorge muss man beobachten, wie sich die Dinge entwickeln, als sei der alte Kontinent dem Todestrieb verfallen. Viel ist zusammengekommen in den vergangenen Jahren und die Europäische Union war schnell überfordert damit. Da war die Weltwirtschaftskrise vor zehn Jahren und in der Folge die Probleme mit dem Euro und allen Rettungsaktionen. Dann der Siegeszug der Rechtspopulisten, die inzwischen längst im Mainstream angekommen sind und die Politik maßgeblich mitgestalten und die Inhalte vorgeben. Und da war die Flüchtlingskrise, die an den Grundfesten der Europäischen Gemeinschaft rüttelte und begann sie zu zerreiben.

Heute muss man um die Gemeinschaft fürchten. Und man muss fürchten, dass weitblickende Politiker wie Ashworth mit ihren Einschätzungen und ihren Warnungen recht bekommen könnten. Leute wie Orban, Salvini oder Kaczyñsky bestimmen heute das Denken und Kurz und Kollegen übernehmen es viel zu oft. Selbst liberale und gar linke Kräfte nehmen heute Positionen ein, die vor wenigen Jahren noch als verpönt galten. Man hat sich von Themen fesseln lassen, von denen man nicht mehr wegzukommen scheint und hat nicht mehr Geist und Kraft, sich anderen Aufgaben zu widmen.

Auf der internationalen Bühne ist Europa dabei, den Anschluss zu verlieren. Versuche, das Steuer herumzureißen, versanden um Nu. Als der französische Präsident Emmanuel Macron vor Monatsfrist in einem offenen Brief "an die Bürgerinnen und Bürger Europas" für einen neuen Aufbruch appellierte, holte er sich überall eine Abfuhr. Deutschlands Angela Merkel und ihre präsumtive Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer ließen ihn auflaufen. Und die anderen europäischen Regierungschefs auch.

Damit wird sich wohl nichts daran ändern, dass man weiter hilflos zuschaut, wie Amerika und China immer mehr Bereiche dominieren. Die fünf größten Datenkonzerne stammen aus den USA, die europäische Autoindustrie ist dabei, ihre führende Position und damit zigtausende Arbeitsplätze an Asien zu verlieren. Statt sich zur Wehr zu setzen, um in die Offensive zu kommen, macht man sich zuweilen noch abhängiger von anderen Kontinenten. In diesen Tagen ist viel von solchen Beispielen zu hören. Davon, dass etwa Deutschland aus der Kohle aussteigt, damit aber Europa noch abhängiger wird von russischem Erdgas und zudem der Strom teurer wird. In der Landwirtschaft, wo man mit immer neuen Auflagen die Selbstversorgung aufs Spiel setzt, ist es nicht anders und in vielen anderen Bereichen auch nicht. 


Dieter Nuhr, spitzzüngiger deutscher Kabarettist, ist derzeit in den sozialen Medien ein Hit. "Die Zukunft liegt nicht in der Vergangenheit, im Kleinen, im Aufhören, im Verhindern und im Abschalten", sagt er laut, was sich viele angesichts der Stimmung in Europa nicht einmal mehr zu denken trauen. "Die Zukunft sitzt nicht auf dem Fahrrad und liegt nicht auf einem deutschen Bauernhof des 19. Jahrhunderts. Während der Rest der Welt an der Zukunft baut, fordern wir mehr Lastenfahrräder", ätzt er böse und schließt daraus trocken: "Wir sind Vergangenheit." 

Dabei sollte es um die Zukunft gehen. Um ein starkes Europa, das vorwärts schaut. Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein auf die EU-Wahlen Ende Mai. Sie gilt manchen bereits als "Schicksalswahl über die Zukunft unseres Kontinents." Das freilich verwundert nicht, angesichts des nationalistischen und oft rückwärtsgewandten politischen Mainstreams, der nicht nur Großbritannien, sondern ganz Europa im Griff hat.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 4. April 2019

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
UA-12584698-1