Dass Wahlen oft zu Qualen werden, ist nicht neu. Dass die Leiden der Wählerinnen und Wähler aber gleich so groß werden wie bei den Wahlen am vergangenen Sonntag ist es doch. Selten wohl hat man so gelitten, selten wohl hat man so viel auf sich nehmen müssen, um sich für eine Partei zu entscheiden. Und selten wohl war es vor allem für Stammwähler, denen ihre Partei ein Anliegen ist, so schwer, der Partei, der man sich seit jeher verbunden fühlt, seine Stimme zu geben. „Kaum je hat man sich so verbiegen müssen, um seine Partei zu wählen“, war am Sonntag und in den Tagen davor oft zu hören. Es fehlte an Ideen, es fehlte an Persönlichkeiten, es ging schier alles in billigem Populismus unter der zuweilen erschreckend, immer aber beschämend war.
Stammwählern, eigentlich das Rückgrat einer jeden Partei,
wurde es bei diesen EU-Wahlen schwer gemacht wie nie, Stammwähler zu bleiben.
Von allen Parteien. Ganz besonders aber gilt das wohl für die Parteigänger der
Grünen und der Volkspartei. Man denke das Getöse rund um Lena Schilling das die
Wählerinnen und Wähler der Grünen ertragen mussten und deren guter Wille in den
Wochen vor den Wahlen durch das Theater um die Spitzenkandidatin nahezu jeden
Tag aufs Neue auf die Probe gestellt wurde. Man denke an die Parteigänger der
Volkspartei, die mit Slogans wie „Europa, aber richtig“ abgespeist wurden oder
mit dem an dieser Stelle schon besprochenen Slogan einer Kandidatin aus
Oberösterreich, die versprach, dass in Brüssel für sie nur dieses Bundesland
zähle. Man fühlte auch mit den SP-Stammwählern mit, die mit einem blassen
Langzeitpolitiker haderten, der in seinen vergangenen Jahren als Abgeordneter
im EU-Parlament kaum je durch irgendetwas und im Wahlkampf auch nur durch Fotos
in Wander-Adjustierung aufgefallen ist. Und zu leiden hatten wohl auch jene,
die aus Tradition die Freiheitliche Partei wählen und einer freiheitlichen
Gesinnung nachhängen, die längst nichts mehr mit dem zu tun hat, was die FPÖ
respektive ihr Spitzenkandidat vertreten.
„Man musste sie ja nicht wählen, man hätte anders wählen
können“ ist die Standard-Antwort darauf. Diese Antwort aber greift wohl zu
kurz. Stammwählern bleiben wenige Alternativen. Ein Weltbild kann man nicht
einfach austauschen, Ziele, die einem wichtig sind, kann man nicht einfach
leugnen. Einfach eine andere Partei zu wählen, bloß weil man mit der eigenen
nicht mehr zufrieden ist, ist für die meisten wohl kein Weg. Und Interessen,
die man vertreten sehen will, vertreten nicht alle. Wem würde ein Wechsel nutzen?
Hätte man irgendetwas davon? Würde das irgendetwas bewirken? Bewertet man die
eigene Stimme und die eigene Bedeutung damit nicht gar zu hoch?
Fraglos haben schon bei zahllosen vergangenen Wahlen viele
Menschen diesen Weg gewählt und ihr Kreuzerl nicht mehr dort gemacht, wo sie es
zuvor immer gemacht haben. Oft einfach aus Bestemm und aus Protest. Immer mehr
Menschen aber wurden zu echten Wechselwählern, machten ihre Wahlentscheidung
von aktuellen Entwicklungen, von Skandalen und von Versprechungen abhängig. Sie
werden von den Parteien seit je her entsprechend hofiert und umgarnt.
Freilich sind es diese Wähler, die über Sieg und Niederlage
entscheiden, aber rechtfertigt das all die Zumutungen die man Stammwählern
zumutet und für dass sie sich zuweilen schämen müssen? Kein Wunder, dass sie
selten geworden. Dabei sind sie die Wählerinnen und Wähler, auf die sich die
Parteien verlassen können, auf die sie auch zählen können, wenn es nicht gut
läuft für sie. Stammwähler sind die Wähler, auf die sich die Parteien verlassen
können. Sie sind aber auch die, die auf Inhalte zählen, auf Vorstellungen und
Ideen. Da ist gerade vor dem Hintergrund der EU-Wahlen, und nicht nur vor dem
Hintergrund dieser Wahlen, zu fragen, warum es aufgerechnet ihnen so schwer
gemacht wird von ihren Parteien.
Freilich, frustrierte Stammwähler, die sich nicht noch mehr
verbiegen wollen, als ihnen ohnehin schon abverlangt wird, könnten einfach
nicht wählen gehen. Aber wer hätte davon etwas? Diesen Weg gehen zwar immer
mehr, für viele ist er dennoch keine Alternative.
Da bleibt man wohl beim aus der eigenen Sicht kleineren Übel
und gibt sich der Hoffnung hin, dass alles wieder einmal besser wird, auch wenn
einem dräut, dass diese „Wieder einmal“ wohl eher ein „Irgendwann“ sein wird.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 13. Juni 2024
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