Ihr Name ist Angelika Winzig, sie ist Unternehmerin aus Oberösterreich und ist im EU-Parlament seit Jahren die Delegationsleiterin der Österreichischen Volkspartei. "In Brüssel zählt für mich nur eines: Oberösterreich" wirbt sie in diesen Wochen im Land ob der Enns auf hunderten Plakaten und zieht damit viel Häme auf sich. Und das, bei Licht betrachtet, völlig zu Recht. Als "Verhöhnung aller Nicht-Oberösterreicher" empfindet man das und, wie es ein Kommentator formulierte als "totale Verkennung der Funktion des EU-Parlaments, das keine Außenstelle des Linzer Landtags ist, sondern das einzig direkt gewählte Organ der Union, weshalb seine Angehörigen denn doch einen etwas weiteren Horizont haben sollten".
Mit dem Slogan, mit dem die oberösterreichische Abgeordnete um Stimmen buhlt, formuliert sie eines der größten Probleme mit dem die Europäische Union zu kämpfen hat - Leute wie sie, die sich Europapolitiker nennen, verstehen die EU-Politik falsch. Und zwar von Grund auf. Sie verstehen sich weniger als Politiker für Europa, sondern sehr viel eher als Lobbyisten für die Interessen ihrer Region, ihre Wählerklientel, ihrer Wirtschaftsbranchen und anderer zumeist sehr partikulärer Interessen. Es geht ihnen vornehmlich darum, ihrer Region genehme Vorschriften durchzusetzen und aus den Geldtöpfen der Union für ihre Wähler das meiste herauszuholen. Und es geht ihnen darum möglichst viel von dem zu verhindern, was ihnen und ihrem unmittelbaren Umfeld zum Nachteil gereichen könnte. Um die Europäischen Union, um Europa als Gesamtes und um ihr Fortkommen geht es ihnen hingegen kaum. Und da ist noch gar nicht die Rede von denen die die Union am liebsten sprengen würden.Echte "Europäer" sind vor allem in den Reihen der EU-Parlamentarier selten geworden. Längst hat man die ursprünglichen Ziele aus den Augen gelassen - das Friedensprojekt, als das die Union gedacht war, das Wirtschaftsprojekt, als das es auch gegründet worden und auch die sozialen Ziele, die man damals hatte. Zuviel im heiklen Gefüge der Interessen zwischen den einzelnen Nationalstaaten und der Gemeinschaft ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, getrieben von einer immer sorg- und verantwortungsloser agierenden Politik ist aus der Balance gekommen. Für alles, was im Land nicht funktioniert, werden "die in Brüssel" verantwortlich gemacht. Von allen. Das alles öffnete ein weites Spielfeld für Populisten jedweder Provenienz, die nun quer durch die EU die Union diskreditieren und in Frage stellen.
Die Folgen sind unübersehbar. Europa ist nur noch Mittelmaß. Wenn überhaupt. Der ökonomische Rückstand nicht nur auf die USA ist in den vergangenen Jahren dramatisch gewachsen, China eine permanente wirtschaftliche Bedrohung. Der Ukraine-Krieg zeigt die Mängel in der Sicherheitspolitik schonungslos auf. Und viele fürchten um den Wohlstand.
Europa steht sich selbst auf den Füssen und leidet darunter. Unter der Uneinigkeit in der Führung der Union und der Staaten, unter der Überregulierung, unter Doppelgleisigkeiten und unter der Trägheit des Systems. Man wollte oft zu viel und zu schnell und hat sich zu wenig um die Menschen und ihre Sorgen gekümmert. Und ja - man hat sich der Frage
verweigert, warum für immer mehr Menschen die EU zum Feindbild wurde und so leicht zum Feindbild gemacht werden konnten.
Das sind keine guten Voraussetzungen, um mit den Herausforderungen gerecht zu werden vor denen man nun steht. Dabei sind die groß wie kaum je zuvor. Es geht um den Zusammenhalt und um eine gemeinsame Richtung. Denn die braucht ein einiges Europa, will man mit den großen Herausforderungen zurechtkommen. Es braucht eine Politik, die an einem Strang zieht.
Es nimmt nicht Wunder, dass angesichts der Entwicklung in den vergangenen Jahren und angesichts des politischen Klimas nicht wenige Beobachter die Union an einem Scheideweg sehen und von einer Richtungsentscheidung sprechen bei dem, was am 9. Juni ansteht. Die Angst vor einem Rechtsruck geht um, der Europa zurück in eine Nationalstaatlichkeit führen könnte, in dem alles den Partikularinteressen einzelner Staaten untergeordnet wird, aber nicht mehr dem gemeinsamen Europa.
Ob sich Europa das leisten kann, sei in Frage gestellt. Die Froschperspektive, die sich hinter Wahlslogans wie "In Brüssel zählt für mich nur eines: Oberösterreich" zeigt, ist jedenfalls der falsche Ansatz.
Es mag viel falsch laufen, eine Alternative zur Europäischen Union gibt es
freilich nicht.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 6. Juni 2024
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