Donnerstag, 15. September 2022

Gefährlicher Knacks in der Leistungsgesellschaft

Statt zu arbeiten wollen die Menschen heute mehr vom Leben haben. Für mehr Freizeit und weniger Stress nehme man auch Einkommenseinbußen in Kauf, Arbeit sei nicht mehr so wichtig, wie sie es einmal war. Kurzum, die Leute wollen mehr vom Leben haben und nehmen dafür auch etwas in Kauf. Was bisher immer Vermutungen waren, wird nun zunehmend von Untersuchungen bestätigt -die bald drei Jahre der Pandemie haben die Menschen und die Werte, die für sie wichtig sind, so heftig verändert wie kaum je zuvor etwas.

Die "Momentaufnahme", die das österreichische Team, das im Rahmen der Europäischen Wertestudie für Österreich "Haltungen und Einstellungen sowohl zu Gott als auch zu irdischen Belangen" ermittelt, wie "profil" es beschreibt, das die Studie veröffentlichte, zeigt erstaunliche Ergebnisse. Sie zeichnen ein Bild, das Sorgen machen kann. Das Bild von einem gefährlichen Knacks in der Leistungsgesellschaft zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt.

"In den zwei Jahren der Pandemie hat sich so viel getan wie in 30 Jahren zuvor nicht", wird eine Mitarbeiterin der Studie zitiert. So ist etwa heute die Arbeit deutlich weniger Menschen wichtig als noch vor vier Jahren, also 2018. Gaben damals noch deutlich mehr als 90 Prozent an, dass ihnen Arbeit wichtig sei, so waren es zum Zeitpunkt der Umfrage im Dezember 2021 nur mehr gut 85 Prozent, und je nach Altersgruppe sogar noch weniger. Als wichtiger Lebensbereich gilt Arbeit so wenigen Menschen wie noch nie.

Vor allem den Besser-und Gut-Verdienern ab einem monatlichen Einkommen von 1.600 Euro ist Arbeit weniger wichtig als früher. Bei höheren Gehaltsklassen rutschten die Werte besonders deutlich ab. Ein Beispiel: War in der Einkommenskategorie über 2.440 Euro Arbeit vor vier Jahren noch für 92 Prozent wichtig, so ist sie das derzeit nur noch für gerade einmal 80 Prozent.

Für die Bezahlung freilich gilt das genaue Gegenteil. "Gute Bezahlung" ist heute mehr Leuten denn je an einem Beruf wichtig. Heute ist das für 74 Prozent selbstverständlich, vor vier Jahren lag dieser Wert noch bei 69 Prozent.

Damit freilich nicht genug der erstaunlichen Veränderungen. Parallel dazu hat sich auch die Einstellung zur Arbeit geändert. Der Anteil der Menschen, die Arbeit als wichtig für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten sehen, ist markant zurückgegangen. Im Beruf Eigeninitiative zu entfalten, ist der Umfrage zufolge heute nur mehr 42 Prozent der Menschen wichtig. 2018 war das noch für 55 Prozent von Bedeutung. Da passt dazu, dass heute deutlich weniger bereit sind, der Arbeit auf Kosten der Freizeit Vorrang zu geben, und auch, dass immer mehr angeben, die Arbeit weniger wichtig zu nehmen.

Dass es sich mit der Bedeutung der Freizeit im Leben der Menschen genau umgekehrt verhält, ist vor diesem Hintergrund nur logisch. Traditionell ohnehin sehr hoch, legte sie noch weiter zu. In praktisch allen Altersklassen -bis auf die Senioren -liegt die Bedeutung der Freizeit bei über 95 Prozent. Überraschend ist nur, dass bei den ganz Jungen (bis 24 Jahre) der Trend in die entgegengesetzte Richtung geht. In dieser Altersgruppe ist der Umfrage zufolge Arbeit wichtig wie schon lange nicht.

Angesichts dieser Umfrage scheint es, als sei so etwas wie eine tektonische Verschiebung im Wertegefüge der Österreicherinnen und Österreicher im Gang. Die möglichen Folgen können Sorgen machen. Und sie sollten es auch. "Sind wir dabei, uns selbst abzuschaffen?" könnte einem da durchaus durch den Kopf schießen. Wer soll da noch die Zukunft stemmen und die Herausforderungen, die da kommen, sind doch die Anforderungen groß wie seit Jahrzehnten nicht?

Die Probleme von Unternehmen und ganzen Branchen, Arbeitskräfte zu finden, erscheinen vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht. Und dass die Alimentations-Orgie mit all den Milliarden, mit denen das Land derzeit unbesehen von echten Notlagen zugeschüttet wird, Sorgen machen kann, zumal sie diese Entwicklung noch unterstützt, wird verständlich. Sie bedient die "Vollkasko-Mentalität in Österreich", die Wifo-Chef Gabriel Felbermayr "Sorgen" macht, wie er dieser Tage meinte.

Dass just in der größten Krise seit Jahrzehnten der Stellenwert der Arbeit so stark verliert und der von Freizeit so zulegt, ist eine Herausforderung für Politik und Unternehmen. Vorschläge und Antworten gar stehen aus. Vollkasko mit immer neuen Milliarden sind es jedenfalls nicht.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 15. September 2022

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