In all dem politischen Getümmel und der damit einhergehenden Aufgeregtheit dieser Zeit geraten wichtige, berührende und auch schockierende Themen, die eine viel größere Aufmerksamkeit von Politik und Gesellschaft verdienen würden, allzu leicht in den Hintergrund. Da gibt es keine fetten Schlagzeilen, keine hysterischen Meldungen. Keine hitzigen Diskussionen. Da haben sich Gewöhnung breitgemacht und ihre Schwester, die Gleichgültigkeit.
"11.781 Personen mussten wegen häuslicher Gewalt zur Beratung", war dieser Tage zu lesen. Als erste Bilanz der vor einem Jahr eingeführten Verpflichtung zu einer sechsstündigen Beratung, zu der Personen müssen, die ihre Partnerin oder ihren Partner bedroht haben. 12.000 Paare, bei denen schon die Polizei im Haus war, um zu schlichten, mehrmals oft sogar. Nicht irgendwo, sondern durchaus in der Nähe. Und da ist noch gar nicht die Rede von den tausenden Frauen, die Jahr für Jahr in den Frauenhäusern Unterschlupf suchen müssen, weil sie die Gewalt zu Hause nicht mehr ertragen.Die Zahlen steigen. Seit Beginn der Pandemie vor bald drei Jahren gingen die Zahlen immer schneller in die Höhe. Nicht nur jene, die Gewalt unter Partnern betreffen, vor allem hat auch die Gewalt gegen Kinder stark zugenommen. 26 Frauen fielen in Österreich heuer schon einem Mord zum Opfer. 26 -das bedeutet fast jede Woche ein Frauenmord.
Und immer noch gibt es Erklärungen dafür, warum etwas passierte, Verständnis oft auch und sogar Rückhalt. "Wird schon einen Grund gehabt haben" und "Früher hat´s das ja auch gegeben und niemand hat da drum so einen Wirbel gemacht". Und das nicht nur von Männern, sondern erstaunlich oft auch von Frauen. Mit den Schultern zucken, wegschauen, verdrängen.
Was sind wir bloß für ein Land? Da ist nichts von der Insel der Seligen, auf die wir einst so stolz waren. Da ist in Wirklichkeit gar nichts mehr zum Stolzsein.
Es will nicht enden. Obwohl das Thema über Jahre im Fokus von Politik und Initiativen steht, gibt es kaum Fortschritte. Wir kommen nicht voran, sondern scheinen -abseits des großen Scheinwerferlichtes und abseits der öffentlichen Diskussion -wieder zurück in alte, längst überwunden geglaubte Zeiten zu drehen. Sind diese steigenden Gewaltzahlen, die Morde, Zeichen einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft? Sind sie Ausdruck der Überforderung, der Orientierungslosigkeit oder eines Verlustes von Werten?
Es ist wohl von allem etwas. Und vor allem passt es ins gesellschaftliche Umfeld und auch ins politische. Es ist üblich geworden, dass es keine Zwischentöne mehr gibt, keine Fragen und auch kein Verständnis mehr für andere Meinungen und Einstellungen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Und auf den haut man drauf. Die Politik macht das vor. Tag für Tag. Zuweilen scheint, dass es eine direkte Linie gibt von diesem Stil, der sich in der Politik breitgemacht hat, zu den Zahlen in der Gewaltstatistik. Populistische Parteien wie die FPÖ oder die MFG befeuern und verstärken diese Entwicklung noch, wie auch verantwortungslose Medien und die Möglichkeiten von Social Media. Das mag weit hergeholt erscheinen. Aber dass da etwas dran ist, ist nicht zu leugnen. Und schon gar nicht zu übersehen.
Es sind Vorbilder abhandengekommen, Leitlinien und Orientierungspunkte. Nicht nur in der Politik, auch im privaten Bereich. Jeder und jede glaubt heute, sich nehmen und fordern zu können, weil einem alles zustehe und weil alles Recht sei. Man lernt das Tag für Tag, es wird Tag für Tag vorgelebt.
Wer sich in dieser Welt nicht durchsetzt, fühlt sich schnell als Verlierer und kommt unter Druck. Frust macht sich breit, Verzweiflung auch. Das Denken wird radikaler und oft das Handeln auch.
Lange funktionierende Mechanismen greifen nicht mehr. Institutionen wie die Kirchen haben wegen ihrer eigenen belasteten Geschichte bei vielen Menschen längst jede Autorität und jede Anerkennung verloren.
Dass die Zahlen der Gewaltstatistiken so in die Höhe schnellen, hat freilich auch damit zu tun, dass diese Menschen nicht ernst genommen werden. Schon gar nicht ihre Meinungen. Wie in vielen anderen Bereichen werden ihre Probleme und Ansichten vom hohen Ross herab abgekanzelt, wie in so vielen anderen Bereichen auch. Dabei geht es nicht um Verständnis für Gewalt, sondern dafür, warum es dazu gekommen ist.
Aber dafür scheint es keine Zeit mehr zu geben. Nicht im Großen. Und nicht im Kleinen.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 8. September 2022
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