Donnerstag, 19. Oktober 2023

Überfordert vom täglichen Tetris

Zuerst wurden alle zu Corona-Experten. Dann wimmelte das Land vor Ukraine-und Russlandfachleuten sowie vor Kriegs-, Belagerungs-, Panzer-und Drohnenstrategen sowieso. Und jetzt scheinen wir ein Land voller Nahost-Experten zu sein. Jeder hat schnell seine Meinung, jeder scheint alles zu wissen, kaum einer hält mit seinen Ansichten hinter dem Berg. Je nach Position zeigt man sich überzeugt davon, was Israel alles falsch gemacht hat und was die Palästinenser, was die eine Seite zu tun hätte und was die andere und was von denen zu halten ist, die die eine Position vertreten und von denen, die die andere vertreten. Alles in Schwarz-Weiß und ohne Zwischentöne.

Wer sich schon bei Corona gegängelt fühlte, wusste dann, dass "die Amerikaner" schuld am Überfall auf die Ukraine waren, und weiß jetzt, dass sich Israel nicht wundern darf, dass es überfallen worden ist. Für die Hamas hat man heimliche Bewunderung, "weil sie es den Israelis zeigten". Und man freut sich über den Rückenwind für eine Verschärfung der Migrationspolitik der EU.

Bei solchen Ereignissen wie dem Hamas-Überfall auf Israel schlägt, wie zuvor bei der Pandemie oder beim Überfall Russlands auf die Ukraine, die Stunde der Simplifizierer. Im Handumdrehen legt man sich da Erklärungen zurecht, in die alles eingefügt wird. Zwischentöne gibt es da nicht. Ein langes Nachdenken auch nicht. Und schon gar keine Zurückhaltung. Fakten spielen keine Rolle. Und Menschen und ihre Schicksale schon gar nicht.

Die Wirklichkeit tut sich in einem solchen Umfeld schwer. Genau hinzuschauen ist nicht gefragt. Und schon gar nicht Informationen, die das eigene Bild relativieren könnten. Zweifel sind keine Kategorie in dieser Gedankenwelt. Da heißt es allemal schneller, wie unsere deutschen Nachbarn in solchen Fällen gerne sagen -"Immer feste druff".

Die Gesellschaft leidet unter dieser Entwicklung, die in den vergangenen Jahren zu einer zunehmenden Radikalisierung führte. Respekt vor anderen Einstellungen ging verloren. Respekt auch vor Information. Vertrauen ist keine Kategorie mehr, immer öfter regiert nur mehr Misstrauen in einer Welt, in der man oft und aufs immer Neue enttäuscht und desillusioniert wurde. Dieser Tage stand in einer Zeitung der Satz "Es wird unentwegt über Versachlichung, Entpolitisierung und Objektivierung geredet und das Gegenteil getan". Man kann zahllose Themen hinzufügen, aber das trifft es sehr gut, was die Leute abstößt und vertreibt.

Legion sind inzwischen die Abhandlungen darüber. Sie blieben ohne jede Konsequenz. Ganz im Gegenteil. Gleich einem Krebsgeschwür breiten sich diese Verhaltensmuster und Lebenseinstellungen immer weiter aus und durchdringen alle Gesellschaftsbereiche durch und durch -und die Politik erst recht.

Wundern darf man sich freilich nicht. Es ist schwierig wie kaum je zuvor, sich in einer Welt zurechtzufinden, die in rasendem Tempo immer komplizierter und undurchschaubarer wird. In der man kaum mehr nachkommt, auf all die Wenden und Volten zu reagieren, geschweige denn sie nachzuvollziehen. In der eine bislang nicht gekannte Fülle an Informationen und Anforderungen auf einen hereinprasseln. Und in der es schwierig wie noch nie ist, alles einzuordnen. Wem kann man trauen? Was kann man glauben? Wer oder was steht wo dahinter?

Der Hamas-Überfall zeigte es erst wieder. Dass Katar, wo just am gleichen Wochenende, als die Hamas Israel überfiel, die Formel 1 ihren Weltmeister kürte und im Vorjahr die Fußball-WM stattfand, zu den Schlüssel-Playern in der Finanzierung des Terrors gegen Israel gehört, muss man erst auf die Reihe kriegen. So wie all die undurchschaubaren Zusammenhänge der arabischen Welt, der Großmächte und Europa.

Die tägliche Flut von all dem, was man wissen und berücksichtigen müsste und sollte, gleicht einem permanenten Tetris -jenem Computerspiel, bei dem man herabfallende Bausteine in Windeseile drehen und einordnen muss, damit sie sich nicht verspießen. Da nimmt es nicht wunder, dass sich viele Menschen zurückziehen und ausklinken. Dass sie dort Orientierung und Zuflucht suchen, wo sie auf einfache Weise geboten wird. Mit einfachen Erklärungen. Mit einfachen Bildern. Mit einfachen Lösungen.

Man kann es ihnen kaum verargen in dieser Multikrisen-Zeit. Tragbar ist es freilich dennoch nicht. Weil zu viel auf dem Spiel steht -die Demokratie und die Freiheit vor allem.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 19. Oktober 2023

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