Donnerstag, 19. September 2024

Leiden an „begründeter Scheinheiligkeit“



Was bisher eine gängige Vermutung war, wurde jetzt erstmals wissenschaftlich untermauert. Eine Untersuchung der Linzer Johannes Kepler Universität bestätigte, dass beim Kauf regionaler, biologisch hergestellter und qualitativ hochwertigen Lebensmittel bei den Konsumentinnen und Konsumenten Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Demnach geben 47 Prozent der Befragten zu, dass sich bei ihnen Einstellung und Einkaufsverhalten nicht decken. Aber es ist nicht nur das. Gleich 72 Prozent gehen davon aus, dass nicht nur bei ihnen, sondern auch bei den anderen, Einstellung und konkretes Einkaufserhalten nicht übereinstimmen.

Österreichischer hätte das Ergebnis der Studie nicht sein können – wenn man selbst in Erklärungsnot ist, zeigt man gerne mit dem Finger auf die anderen. „Die sind ja noch schlimmer“.

Man ahnt, dass das nicht nur beim Einkaufen von Lebensmitteln gilt, sondern auch bei Kleidung, beim Klimaschutz und vielem anderen. Ganze Dörfer und Kleinstädte gehen seit Jahren wegen dieser Haltung unter, Bauern auch und kleine Händler, nicht nur Lebensmittelhändler, und Gewerbetriebe, Wirte auch und alle anderen, die sich auf das verlassen haben, was allerorten von den Konsumenten und auch von der Politik versprochen wurde. Weil überall Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen und oft nicht zusammenpasst, was versprochen und was dann wirklich getan wird.

Und überall hat man allerhand Ausreden und Erklärungen dafür. Die hohen Lebenshaltungskosten, die Preise – man findet immer etwas, um zu entschuldigen, warum bei einem Denken und Handel auseinanderklaffen. „Begründete Scheinheiligkeit“ wird das genannt.

Oft ist es freilich auch Gedankenlosigkeit. Just die ÖVP, deren Bauernbund nie müde wird darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist heimisch zu kaufen, sorgt derzeit in der Bauernschaft für Staunen. Der Zucker in den kleinen Säckchen, die derzeit überall im Land von den Wahlhelfern in allem Haushalten verteilt werden, ist nämlich ganz anders als man meinen möchte, nicht aus Österreich. „Die süße Wahl“ steht in großen Lettern auf dem kleinen Säckchen und ganz klein daneben „Zucker aus anderer Herkunft“. Ausgerechnet.

Man ist es gewohnt in diesem Land und man nimmt es hin. Das Umfragergebnis aus Linz, die Zuckersackerl der Volkspartei, sie fügen sich in eine Linie. Ein bisserl Augenzwinkern allerorten, ein bisserl schlampig. Anspruch und Wirklichkeit sollen übereinstimmen, man soll nicht einfach gedankenlos handeln? Ja eh – wenn es passt. Man ist es gewohnt, dass allerorten Wasser gepredigt aber Wein getrunken wird.

Das gilt ganz unten und ganz oben genauso. Das gilt am Stammtisch, beim Kaffekränzchen, im Sportplatzbuffet und in der Politik. Man redet den anderen gerne nach dem Mund, man weiß was man wo zu sagen hat und was man wo nicht sagen darf. Weil man Anerkennung will, weil man unangenehme Fragen oder Diskussionen gar vermeiden will. Viele trauen ich meist nicht sagen, was sie wirklich denken, viele wollen das auch gar nicht. Man redet herum, man weicht aus, man duckt und man drückt sich. Man legt bei anderen gerne die Latte hoch, hat aber keine Probleme drunter durchzugehen, wenn‘s um einen selbst geht. Die Landwirtschaft kann ein Lied davon singen, die Wirtschaft auch und, ja, auch die Politik.

Selbst die Meinungsforscher haben damit zu kämpfen. Nicht zuletzt deshalb lagen sie bei den jüngsten Wahlen oft so deutlich daneben - die Befragten sagen ihnen immer öfter auch unter Zusicherung der Anonymität nicht, wie sie sich wirklich denken und wählen. Das gilt auch für die kommenden Nationalratswahlen. Bei den Prognosen muss man diesmal vor allem einkalkulieren, dass viele nicht sagen wollen, dass sie Kickl wählen.

Auf diese Art und Weise sind in den vergangenen Jahren im ganzen Land quer durch alle Gesellschaftsschichten regelrechte Parallelwelten entstanden. Nicht nur unter Ausländern, die in Österreich leben und die dafür von manchen so gerne kritisiert werden, sondern auch und vor allem unter Österreicherinnen und Österreichern. Kreise, in denen man sich unter sich wähnt und in denen man redet, wie man sonst nicht reden würde.

Nicht zuletzt deshalb wohl ist vieles in diesem Land unberechenbar geworden. In der Politik und in der Gesellschaft. Anspruch und Wirklichkeit klaffen immer weiter auseinander – auch weil die „begründete Scheinheiligkeit“ längst für allzu viele zur Grundhaltung geworden ist.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 19. September 2024

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