So viel wie in der vergangenen Woche ist in der österreichischen Innenpolitik kaum je passiert. Das System ist regelrecht implodiert. Von "Chaostagen" reden viele. Man mag dazu stehen, wie man will, man mag davon halten, was man will, und mag Schlüsse daraus ziehen, welche immer man will. Und man mag auch mit Inbrunst darüber spekulieren, wer wofür verantwortlich ist, dass die Koalitionsgespräche scheiterten und nun doch alles auf den Chef der Freiheitlichen Partei hin zu laufen scheint. Und natürlich haben die Kommentatoren nicht Unrecht, die sagen, dass in allen Parteien nicht die Staatsräson, sondern die Parteiräson gewonnen habe. Und natürlich reiten jetzt wieder die aus, die sich über den neuen Partei-Chef Christian Stocker und die 180-Grad-Wende der ÖVP und das "Glaubwürdigkeitsproblem" nicht genug echauffieren können und zu denen Beate Meinl-Reisinger wenig anderes als das Attribut "naiv" einfällt.
Freilich haben sie in vielem Recht. Wert festzuhalten ist in diesem Polit-Tohuwabohu und auch im Hinblick darauf, was noch auf uns zukommen wird, allem zum Trotz, was Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger in ihrem Statement sagte, als sie den Rückzug aus den Koalitionsverhandlungen bekanntgab. Unbesehen davon, wie man ihr Agieren einschätzt. Denn Beate Meinl-Reisinger sagte sehr viel Richtiges, sehr viel, das man nur unterschreiben kann, und sehr viel, das in Österreich längst gesagt gehört. Eine "gemeinsame Vision für Österreich" forderte sie etwa ein, einen "Staat, der sich klar zu seiner Verantwortung bekennt","Verständnis dafür, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Boot sitzen und gemeinsam wieder Wachstum ermöglichen". Sie verlangte auf "Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft" zu setzen, ohne "den sozialen Ausgleich und den Ausgleich zwischen den Generationen" aus den Augen zu verlieren. Sie verlangte von den Parteien "Bereitschaft, ihre eigene Macht einzuschränken" und über Legislaturperioden hinaus zu denken. Sie sagte, dass es "definitiv zu wenig" sei als Regierungszweck, die FPÖ zu verhindern, und nannte als Antwort darauf, "doch endlich eine alternative Zukunftserzählung mit Perspektiven, wirklichen Veränderungen und Reformen anzugehen und zu sagen 'Schaut, wir haben ein besseres Programm'".Es ist wohl so, dass sehr viele Österreicherinnen und Österreicher Meinl-Reisinger Recht geben mit ihren Forderungen. Wenn ihre Ansichten aber auf die Realität treffen, sind diese Forderungen chancenlos, umgesetzt zu werden. Und das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Österreicherinnen und Österreicher gerne nach außen anders reden, als sie tatsächlich denken und handeln, zumal dann, wenn es um ihre eigene Brieftasche und ihre Vorstellungen geht, zumal dann, wenn es darum geht, dass sie etwas beitragen oder gar verändern sollten.
Was jetzt kommt ist ungewiss. Man weiß wenig von den Freiheitlichen und wenig von dem, was Kickl vorhat. Wie will er mit dem Budgetloch umgehen, wie mit dem Schuldenberg? Wie wird seine Sozialpolitik in der Realität ausschauen? Was hat er zum Pensions-und Gesundheitssystem zu sagen und zur Bildung? Welche Leute hat er überhaupt aufzubieten, die sich mit all diesen drückenden Themen auseinandersetzen könnten? Wie wird das Ausland reagieren? Kurzum, wie wird das Rendezvous des Paradepopulisten, der in den letzten Jahren ohne jede politische Verantwortung agierte, mit der Realität wirklich ausschauen?
Österreich ist, das wurde in diesen Tagen seit Neujahr unübersehbar, an die Wand gefahren. Das Land ist orientierungslos und ohne Konzept, das Modell, das über Jahrzehnte hielt, überholt. Wir sind jetzt wohl wirklich dort angekommen, wo uns warnende Stimmen schon seit Jahren gesehen haben. Der Staat kommt daher wie ein Auto mit hunderttausenden Kilometern auf dem Tacho, einer verbeulten, rostigen Karosserie, einem spritschluckenden Uralt-Motor und einem Lenkradspiel, mit dem es kaum mehr auf der Straße zu halten ist. Und jetzt ist es auch mit dem Pickerl vorbei.
Ein neues Fahrzeug wäre dringend nötig. Ein Fahrzeug mit einem modernen Konzept, eines, das eine sichere Fahrt in die nächsten Jahrzehnte garantiert.
Ob das die Regierung, respektive der mögliche neue Kanzler, zusammenbringen wird, sei bezweifelt. Aber vielleicht kommt ja eh wieder alles anders.
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