Donnerstag, 28. November 2013

Der dressierte Bürger



Die Deutschen, so schätzen die Deutschen, leben mit mehr als einer Million Vorschriften. Man darf davon ausgehen, dass es in Österreich wohl kaum weniger sind. Gesetze, Verordnungen, Gebote, Verbote, Vorgaben, Normierungen. Haarklein, bis ins letzte Detail und immer öfter dort, wo sie eigentlich nichts verloren haben. Überall nichts als Vorschriften und wieder Vorschriften. So viel wie nie sagen Kritiker. Ihnen ist wohl recht zu geben. Das Wort vom "Nanny-Staat", der seine Bürger mit einer alles umfassenden Vor-und Fürsorge bis tief in den Alltag und hinter die Wohnzimmertüren hinein gängelt, macht die Runde. Und vom "dressierten Bürger" ist immer öfter die Rede, den vor sich selbst zu schützen sich der Staat zur Aufgabe gemacht hat.

"Der Staat traut dem Einzelnen nicht mehr viel zu, jedenfalls nichts Gutes", wird in den Gazetten geätzt. Man mutmaßt, dass die Politik mit den immer neuen Vorschriften, mit denen sie die Bürger am Gängelband hält, nichts als von den großen Themen, mit denen sie nicht zurande kommt, ablenken will. "Pseudopolitik" nennt der österreichische Philosoph Robert Pfaller das. "Hunderte Beamte beschäftigen sich mit der Frage, ob die Warnungen mit Schockbildern auf den Zigarettenpackungen 65 oder 75 Prozent der Zigarettenpackung einnehmen sollen, damit ja kein Wettbewerbsunterschied entsteht. Aber Europa ist nicht in der Lage, sich auf eine gemeinsame Sozial-oder Steuerpolitik zu einigen." Während große ökonomische Vorgänge dereguliert würden, beginne eine von der Beamtenschaft geleitete Politik die Bevölkerung im Kleinen zu schikanieren.

Beobachtern gilt die Überregulierung als Zeichen eines schwachen Staates, der zum Moralisieren neigt. In der Politik, zumal in der heimischen, stehen vor allem die Grünen im Ruf, die Bürgerinnen und Bürger missionieren zu wollen und gerne die Moralkeule zu schwingen. Da wollte, schon lange vor den deutschen Grünen, in Oberösterreich der grüne Landesrat Anschober einen fleischlosen Tag einführen, um seine Landsleute auf das, was er für den rechten Weg hält, zu bringen. Aber auch in den anderen Parteien ist man nicht abgeneigt, Vorschriftenkataloge zu diktieren, wenn es nur der eigenen Sache dienlich ist. Argumente lassen sich allemal finden. Und wenn es sein muss, muss die EU herhalten, die dann im Handumdrehen zum Bürokratenmonster stilisiert wird.
Besser macht die fortschreitende
Gängelung der Bürgerinnen und Bürger indes kaum etwas. Immer neue Regelungen schaffen nur immer neue Möglichkeiten etwas falsch zu machen und stellen damit zuweilen die gesamte Gesellschaft mit zumindest einem Fuß ins Kriminal. Dass selbst ein äußerst rigides Kontrollwesen und immer neue Vorschriften keine Garantie dafür sind, Mängel auszuschalten, beweisen immer wieder die Skandale aller Art -von Lebensmittelskandalen bis hin zu Korruptionsskandalen. Je enger das Korsett und je feiner das Vorschriftennetz ist, desto größer sind die Folgen, wenn das für unmögliche Gehaltene doch passiert.

Die Bevormundung der Bürger bis hinein ins Schlafzimmer hat sich die Gesellschaft zu einem guten Teil freilich selbst zuzuschreiben. Sie ist nicht schuldlos daran, dass sie in das hingeraten ist, was nun als Nanny-Staat bespöttelt wird. Experten wie Pfaller bringen diese Entwicklung mit der Entsolidarisierung der Gesellschaft in Zusammenhang. Ihnen ist wohl recht zu geben. Ein Handschlag zählt heute kaum mehr etwas, der Hausverstand wird längst in der Werbung verramscht und Vertrauen und Eigeninitiative sind Kategorien, die in unserer Gesellschafft am Verschwinden sind. Ersetzt werden sie von immer neuen und immer detaillierteren Vorschriften. Die werden zwar mitunter als lästig empfunden, wenn sie aber nützlich sind, sind sie vorzüglich geeignet, sich darauf zu berufen, darauf zu pochen, sich dahinter zu verstecken oder sie gleich einzuklagen. Die detaillierten Vorschriften für alles und jedes sind heute das Gerüst einer Gesellschaft, in der jeder für sich alleine zu leben scheint und in der es Kultur geworden ist, an sich zu raffen, was zu kriegen ist. Sie nehmen jede Verantwortung ab. So sehr, dass sie viele am liebsten gleich ganz abgeben - was dann freilich den Teufelskreis vorantreibt, ist doch dann ein noch engeres Vorschriftenwerk verlangt. Mit dann möglicherweise bald zwei Millionen Vorschriften.

Meine Meinung, Raiffeisenzeitung, 28. November 2013

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