Donnerstag, 20. Mai 2021

Dröhnende Selbstgefälligkeit auf allen Seiten

Die Verwüstung des politischen Klimas ist eine ziemlich komplette. Dem Kanzler droht die Anklagebank, die Opposition weiß sich gar nicht mehr einzufangen in ihrem Geifer und wähnt sich knapp vor dem Ziel, Kurz aus dem Amt zu jagen. Das ganze Land scheint in diesen Tagen Stellung zu beziehen. Auf der einen Seite die, die sich um den Kanzler scharen und die Vorwürfe für völlig überzogen halten, und auf der anderen Seite die "Kurz-muss-weg"-Fraktion. Welten prallen aufeinander. Ohne jedes Verständnis füreinander und auch ohne jedes Bemühen, dieses aufzubringen. Allerorten Diskussion darüber, ob der Kanzler "da noch raus kommt", oder ob er sich endgültig verheddert in all den Fallstricken, die nicht nur seine Gegner, sondern auch er selbst, nicht frei von Allmachtphantasien, ausgelegt hat.

Von "houdinistischen Fähigkeiten", in Anlehnung an den legendären US-amerikanischen Entfesselungskünstler Harry Houdini, war zu lesen, die Kurz brauche, um aus der Zwickmühle herauszukommen, in die er sich auch selbst gebracht habe. Das Thema Neuwahlen ist mit einem Mal auf dem Tisch und allerorten Erklärungen und Spekulationen, warum die kommen oder nicht kommen und wem die nützen könnten und wem nicht.

Angesichts der Ereignisse, der Bosheit und der Hinterhältigkeit, die in den vergangenen Monaten dem Volk auf offener Bühne geboten wurden, mag man der Politik in diesem Land allenfalls, wenn man guten Willens ist, einen hohen Unterhaltungswert zugestehen, ernst mag man sie nicht mehr nehmen. Das bestätigt auch die jüngste Spectra-Umfrage für die OÖ Nachrichten. Der zufolge zweifeln inzwischen 91 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher am Anstand in der Politik. Sie vermissen auch Seriosität. Nur bescheidene fünf Prozent halten die heimische Politik für integer in jeder Hinsicht. Schlimmer geht es eigentlich nicht.

Zurückzuführen ist dieses Umfrageergebnis, das sich wohlgemerkt auf beide Seiten, also sowohl auf die Kurz-Seite als auch auf die Seite seiner Gegner bezieht, wohl darauf, was nicht nur Kurz und seine "Familie", sondern auch was die Opposition und die Scharfmacher in diesem Land aufgeführt haben.

Es ist nur zu unterstreichen, wenn der "neuen ÖVP" vorgeworfen wird, wie es ein Kommentator formulierte, dass sie sich "auszeichne" durch ihre "kümmerliche Wahrnehmung gestandener Säulen unseres Staates wie des Parlaments, des Bundespräsidenten, des Verfassungsgerichtshofes, der tatsächlich unabhängigen Medien, des Föderalismus oder der Sozialpartnerschaft". Und es ist verständlich, dass man angesichts der Provokationen und des Verhaltens, die sich in den vergangenen Monaten der Kanzler oder etwa der Finanzminister leisteten, heiß läuft. Aber gibt es keine andere Möglichkeit darauf zu reagieren, all diese Auswüchse in den Griff zu kriegen, ohne den politischen Scherbenhaufen anzurichten, vor dem man jetzt steht? Muss man dabei selbst die politischen Sitten und die Umgangsformen derart verrohen lassen? Den Staat und seine Einrichtungen permanent desavouieren und schlechtreden? Und wo es sogar ein Kickl schafft, die Freiheitlichen wieder zurück ins Spiel zu bringen, weil er für das politische Österreich jenseits der ÖVP und der Grünen seine ganze Energie in den Kampf gegen Kurz steckt.

Von keiner Seite kam in den vergangenen Wochen irgendetwas, um die Lage zu kalmieren, kein Versuch, zumindest verbal abzurüsten und so miteinander umzugehen, wie es selbst in solchen Situationen eigentlich zu erwarten wäre. Keine Anstalten von irgendwem, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. So wie der Kanzler, der Finanzminister oder die Regierung oft viel überzogen und provoziert haben und damit Stimmungen, Haltungen und Feindschaften verfestigt haben, statt Gräben zu überwinden, tut es auch die Opposition. Auch sie provoziert und verfestigt damit die Stimmung und steckt alle Energie in den Aufbau von Fronten.

Rücksicht nehmen beide Seiten herzlich wenig, nicht nur aufeinander, sondern auch auf all das, was sie anrichten. Auf die Folgen in der Gesellschaft, für die Politik und auch nicht auf die Folgen für das Gemeinwohl. Stattdessen herrscht auf allen Seiten eine dröhnende wie unerträgliche Selbstgefälligkeit, mit der man an den Grundfesten des Staates bohrt und rüttelt, statt sie zu schützen und darauf zu bauen.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 20. Mai 2021

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