Montag, 4. April 2022

China sitzt auf einem Getreideschatz

China ist eine schlafende Weltmacht auf den Getreidemärkten. In den Speichern des Landes lagert mehr als die Hälfte der weltweiten Getreidevorräte. Das könnte politisch genutzt werden.

Hans Gmeiner 

Salzburg. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine beherrschen die Sorgen um die Versorgung mit Getreide und die Sicherung der Ernährung die Schlagzeilen. Beide Länder gehören zu den wichtigsten Lieferanten von Getreide und Ölsaaten auf den internationalen Märkten. Mit einem Mal interessierte sich die breite Öffentlichkeit für Ernteeinschätzungen und Getreidevorräte.

Auch wenn in Europa rasch die Devise ausgegeben wurde, man müsse sich keine allzu großen Sorgen machen, dass Weizen, Futtergetreide und Mais knapp werden könnten, war schnell klar, dass man auf Krisenfälle wie diese rund um den Globus kaum vorbereitet ist. Die Lager sind so wenig gefüllt wie seit Jahren nicht. Nach Angaben des International Grains Council (IGC) werden die Reserven der großen Exporteure Russland, USA, Kanada, Ukraine, Argentinien, Australien, Kasachstan und Europäische Union in der aktuellen Erntesaison 2021/22 auf ein Neun-Jahre-Tief von 57 Mill. Tonnen fallen. Das reiche gerade einmal aus, den weltweiten Bedarf für 27 Tage zu decken. Rechne man die russischen und die ukrainischen Lagerbestände heraus, sinke dieser Zeitraum gar auf weniger als drei Wochen.

Die Zahlen sind in der Tat frappierend. So bleibt der EU, dem mit knapp 137 Mill. Tonnen weltgrößten Weizenproduzenten, 
laut Schätzungen des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) nur ein Lagerbestand von 9,5 Mill. Tonnen als Reserve. Bei Futtergetreide sind es bei einer Ernte von 154 Mill. Tonnen gerade einmal 14,1 Mill. Tonnen und bei Mais bei 69,80 Mill. Tonnen Erntemenge nur 7,7 Mill. Tonnen. Bei den anderen großen Getreide- und Maisproduzenten sind die Relationen kaum anders, unabhängig davon, ob es sich um die USA, Russland oder die Ukraine handelt – am Ende eines Erntejahrs bleibt für Krisenfälle überall wenig übrig.

Ein Land, das bei den aktuellen Diskussionen über die Zukunft der Welt-Getreidemärkte bisher keine Rolle spielt, überrascht allerdings mit Zahlen, die man international kaum auf dem Radar hat – die Volksrepublik China. Das Land ist sowohl bei Weizen und Futtergetreide als auch bei Mais und Reis Nettoimporteur, verbraucht also mehr, als es erzeugt, verfügt aber bei all diesen Fruchtarten über die mit Abstand größten Reserven.

Bei Weizen etwa haben die Chinesen laut USDA-Schätzungen mit 142 Mill. Tonnen mehr als eine gesamte Jahresernte als Sicherheitsreserve in den Lagern. Das ist gut die Hälfte der weltweiten Reserven. Bei Futtergetreide sind es mit 211 Mill. Tonnen gut drei Viertel einer Jahresernte und zwei Drittel der weltweiten Reserven. Und bei Mais hat man mit 210 Mill. Tonnen knapp 80 Prozent einer ganzen Jahresernte auf Lager und verfügt ebenfalls über zwei Drittel der weltweiten Reserven des international wichtigsten Nahrungs- und Futtermittels. Da verwundert nicht, dass in China auch die Reisspeicher bis unters Dach mit 75 Prozent einer Jahresernte gefüllt sind, das sind 60 Prozent der weltweiten Reserven.

Über die Hintergründe der chinesischen Vorsorgepolitik weiß man wenig. Schon 2005/2006 wurden Mindestabnahmepreise eingeführt, um die Bauern zum Weizenanbau zu motivieren. Aufgefallen ist auch, dass China zu Beginn der Coronapandemie auf den internationalen Märkten große Mengen an Getreide und Soja aufkaufte.

Dass Autarkie eines der großen Wirtschaftsziele des Landes ist, weiß man, aber mittlerweile vermuten Beobachter mehr dahinter. Ökonomen wie Hendrik Mahlkow vom Kiel Institut für Weltwirtschaft denken, dass China in Notfällen ärmeren Ländern vor allem in Afrika, die an den Lieferausfällen aus Russland und der Ukraine vor allem zu leiden haben, Hilfe anbieten und so den eigenen Einfluss stärken könnte. Als möglicher Abnehmer gilt unter anderem Ägypten, auch wegen seiner besonderen strategischen Bedeutung. Aber es gibt auch andere, die für China ansprechbar wären, sind es doch weltweit an die 50 Länder, die zumindest 30 Prozent ihres Bedarfs an Weizen bisher aus der Ukraine und aus Russland deckten.

Salzburger Nachrichten - Wirtschaft, 4. April 2022

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