Donnerstag, 17. März 2022

Rendezvous mit der brutalen Wirklichkeit

"Schlechte Strategie, fehlender Nachschub, miese Moral -die russischen Streitkräfte haben weiterhin viele Probleme", freuten sich Medien in Europa nach der erste Woche des russischen Krieges gegen die Ukraine. Es sehe sehr danach aus, als würden die ersten Russen desertieren, war zu lesen, und auch der messerscharfe Schluss daraus, dass es nur mehr "drei bis vier Wochen bis zur Kampfunfähigkeit" der Russen dauere.

Wir reagieren auf den Krieg in der Ukraine wie wir in den vergangenen Jahren immer reagiert haben. Wir klammern uns an unsere Bequemlichkeit und an jeden Strohhalm, um unsere Illusionen aufrechtzuerhalten. Haben immer Ausreden parat und immer Erklärungen und tun das, was wir immer schon am liebsten getan haben, wenn's wo brenzlig wird -wegschauen.

Der Wirklichkeit aber, dem Krieg und all den Folgen, die er auch für uns haben wird, schauen wir am liebsten nie ins Gesicht. Bis zur Selbstblendung weigern wir uns wahrzunehmen, was direkt vor unserer Haustür passiert und was das für unser künftiges Leben bedeutet. Wir können mit dem Krieg nicht umgehen, schon gar nicht all jene, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren sind. Wird schon nicht so arg werden für uns. Russland stehe ja bereits vor dem Staatsbankrott und das werde sicher noch schlimmer, wenn die westlichen Unternehmen weg sind. Selbst dass sich Gucci, Hermes und McDonalds aus Russland zurückgezogen haben, wird als Zeichen dafür gewertet, dass Putin bald in die Knie gehen wird.

Das Lügen in die eigene Tasche ist Kultur bei uns. Aber Putin reagiert nicht nach westlichen Mustern und Erwartungen. Die Angriffe werden immer schärfer in der ganzen Ukraine, die Bilder, die uns erreichen, sind schrecklich, und US-Präsident Biden hat das Wort vom Dritten Weltkrieg selbst in den Mund genommen.

Wir sind gefordert und wir werden mehr aushalten und auf uns nehmen müssen, als wir glauben mögen. Die Sanktionen, mit denen der Westen Putin in die Knie zwingen wird, treffen auch uns. Wir müssen erst lernen damit umzugehen, vor allem auch mit der Wucht, mit der die Auswirkungen uns selbst treffen. Von explodierenden Sprit-und Gaspreisen angefangen bis hin zu exorbitanten Preissteigerungen und Rohstoffen, die nicht so verfügbar sind, wie man es gewohnt war. Das ist so etwas wie die Nagelprobe dafür, ob die Linie hält ,wie der Westen Putin stoppen will, oder ob die Solidarität und der Zusammenhalt gleich an der ersten Zapfsäule zerbröselt.

Dabei könnte das erst der Anfang sein. Längst liegt, auch wenn niemand daran denken mag, ein völliges Öl-und Gasembargo auf dem Tisch.

Die Sanktionen sind fraglos richtig und sie müssen wohl auch noch ausgebaut werden. Zu den Sanktionen zu stehen ist ohne Alternative. Auch wenn es weh tut. Das ist unser Beitrag zur Auseinandersetzung mit Putin und seinem Russland und, das sollte man nie vergessen, soll uns aus einem richtigen, grausamen und blutigen Krieg heraushalten. Was uns abverlangt wird, ist nicht nichts, aber es ist nichts im Vergleich zu einem richtigen Krieg.

Wir, respektive die Jahrgänge, die nie einen Krieg erlebten, sind dabei, in der Wirklichkeit anzukommen. In einer Wirklichkeit, in der es hart auf hart hergeht und irrational. In der wir erstmals wirklich gefordert sind. In der es um die nackte Macht geht und in der all das nichts gilt, was wir als Kultur gelernt haben und leben. Das heißt nicht, dass auch wir, dass Europa, so handeln müssen, aber wir müssen lernen damit umzugehen.

Wir müssen lernen, in einer neuen Wirklichkeit zu leben. Und nicht einer, die wir uns in den vergangenen Jahrzehnten zurechtbastelt haben.

Im "Kurier" zitierte dieser Tage die Chefredakteurin Martina Salomon Ahmad Mansour, einen deutschen Islamismus-Experten, der als Palästinenser in Israel geboren wurde. "Wir haben uns einer Utopie hingegeben. Wir waren davon überzeugt, die Welt würde uns schon folgen. Pazifismus, Feindseligkeit gegen Sicherheitsorgane, gepaart mit einem Absolutheitsanspruch auf Moral", schreibt er. Der Westen habe sich selbst in Ketten gelegt.

Jetzt sind andere Antworten gefragt und wohl auch eine andere Kultur. Denn es ist augenscheinlich, dass die Demokratie nicht mit dem Anstrahlen des Brandenburger Tors in den Farben der ukrainischen Flagge gerettet wird, wie Mansour schreibt.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 17. März 2022

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