Donnerstag, 23. Juni 2022

Mut zur neuen Normalität

Die ersten waren die Bauern, die schon bald nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine Aufweichung des Umweltpfades forderten, den die EU in der Landwirtschaft einschlagen will. Es ging schon bald nach den ersten Raketeneinschlägen in der Ukraine darum, den Green Deal, der eine starke Beschränkung der Düngung und des Pflanzenschutzes und Flächenstilllegungen vorsieht, zumindest vorerst wieder in den Schubladen verschwinden zu lassen. Dann wurden in vielen europäischen Staaten rasch Stimmen laut, die Atomkraft zu überdenken. Und als die Inflation über das Land hereinbrach, ging es bei uns vor allem darum, die für Juli geplante Einführung der CO2-Bepreisung zumindest aufzuschieben, Forderungen nach Mietpreisdeckelungen wurden laut und nach immer mehr Ausgleichszahlungen, um die Kostenlawine abzufedern. Und jetzt will man sogar ein altes Kohlekraftwerk wieder in Betrieb nehmen.

Die schwierige Situation und neue Anforderungen verlangen die Maßnahmen zu überdenken und zumindest da und dort aufzuschieben, hieß es überall. Mit einem Mal schien es Gelegenheit zu geben, das Rad wieder zurückzudrehen. Klimakrise, Umweltkrise und Finanzmarkt-Themen schienen mit einem Mal an Wert und Bedeutung verloren zu haben. Alles schien mit einem Mal wieder offen.

Vieles von dieser Stimmung ist fraglos nachvollziehbar, wenn man sieht, wie die Getreideversorgung der Welt zusammenklappt und Hungersnöte drohen oder wenn die Inflation in den Galopp verfällt und immer mehr Menschen nicht mehr mit dem Geld auskommen und für sie Armut zu einer echten Bedrohung wird.

Vieles klang und klingt logisch. Es ist nachvollziehbar, wenn zu hören ist, dass jetzt pragmatische Lösungen gefragt sind und Vorrang haben müssen und nicht ideologische. Dass es Rücksichten auf die Wirtschaft und ihr Fortkommen und auf die Menschen und ihr Auskommen zu nehmen gelte, und dass zumindest da und dort ein Aufschub möglich sein muss. Aber gleich das ganze Rad zurückdrehen? Darf man das, denn die großen Themen bleiben trotzdem große Themen. Die Klimakrise. Die Umweltkrise. Die Finanzkrise. Sie sind ja nicht verschwunden und sie bleiben eine Herausforderung. Eine, die man jetzt nicht so einfach beiseiteschieben kann, wie manche das möchten.

Mahnende und warnende Worte hatten es schwer in den vergangenen Monaten, als die Welt mit einem Mal aus den Angeln geriet. Europa schlingert und es macht sich der Eindruck breit, dass die westlichen Industrieländer und vor allem Europa unter den Sanktionen, die Putin in die Knie zwingen sollen, viel mehr zu leiden haben als die Russen selbst.

Stimmen wie jene der Wifo-Expertin Margit Schratzenstaller, die etwa die Aufschiebung der CO2-Bepreisung für ein falsches Signal hält, tun sich schwer in dieser Zeit und in diesem Umfeld. Es sei im Gegenteil dringend an der Zeit, CO2 stärker zu bepreisen und an klimapolitischen Vorhaben festzuhalten, meint sie, "trotz oder vielleicht wegen der Krise". Vor diesem Hintergrund sollte man die Grünen eher bewundern, als sie zu belächeln, dass sie sich doch der Realpolitik beugen.

Es war der russische Präsident Putin, der bei der Wirtschaftskonferenz in St. Petersburg in der vorigen Woche von einer "neuen Realität" sprach. Auch Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine scheint man genau das in Europa und im Westen noch nicht wahrzuhaben wollen. Noch versucht Europa die Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Immer deutlicher aber stellt sich die Frage, ob nun nicht die Zeit gekommen ist, zu einer neuen Normalität zu finden. Wir müssen mit teuren Lebensmitteln leben lernen, mit der Inflation, mit hohen Mieten, mit teurem Strom und mit einer knappen Gasversorgung. Es kann nicht alles ausgeglichen werden mit immer neuen milliardenschweren Notpaketen. Die Zeiten sind andere, als wir sie gewohnt waren.

Dass man dabei auch von eingeschlagenen Pfaden abweichen und über ideologische Barrieren springen muss, gehört wohl auch zu dieser neuen Normalität. Aber es gehört auch dazu, dennoch Themen wie Klima-und Umweltschutz und all die anderen Probleme und die Anforderungen, die sie stellen, auch unter diesen geänderten Verhältnissen nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist die neue Normalität. Und der müssen mir uns stellen. Inklusive der Einschränkungen und Einbußen, die sie uns bringen mag.

Wir alle. Und die Politik erst recht.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 23. Juni 2022

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