Donnerstag, 22. Februar 2024

Die Bürokratie und wir

Für die Bauern ist die Bürokratie eine der größten Plagen, die Lehrer jammern und die Wirtschaft kämpft vehement gegen das Lieferkettengesetz, während das nächste Paragrafen-Monstrum, die Entwaldungs-Verordnung, bereits ihre Schatten vorauswirft. Die wuchernde Bürokratie ist längst zu einer Volksplage geworden, zu einer regelrechten Landseuche. Man ergeht sich in Verwunderung und Verärgerung. Man wird nicht müde, skurrile Beispiele zu zitieren und auch nicht von der Politik Bekämpfungsmaßnahmen zu verlangen. Der Erfolg ist bescheiden, der Kampf gegen die wuchernde Bürokratie ist zur politischen Folklore geworden. Er fehlt in keinem Wahlprogramm und auch in keinem Regierungsprogramm. Ohne große Konsequenzen. Auch an dieser Stelle sind die Bürokratie und ihre Auswüchse immer wieder Thema, wurde schon oft darüber geschrieben und gelästert.

Bürokratie ist oft nichts denn ein Machtinstrument und oft nichts denn Schikane. Aber es gibt rund um die wuchernde Bürokratie auch eine andere Seite. Zumindest in sehr vielen Bereichen. Die freilich spielt bei all den Klagen kaum eine Rolle -all der Vorschriftenwust, in dem wir uns gefangen fühlen, an dem wir zu ersticken drohen und der so oft nichts denn kontraproduktiv ist, hat auch mit uns selbst zu tun. Mit Entwicklungen in der Gesellschaft, die zum einen nachvollziehbar und verständlich sind, die zum anderen aber auch zu denken geben sollten. Denn die wachsende Bürokratie hat auch sehr viel damit zu tun, dass es kaum mehr Handschlagqualität gibt, dass man sich auf nichts mehr verlassen will und kann, und dass man sich immer in der Gefahr sieht, hereingelegt, übervorteilt und schlicht angelogen zu werden. Es hat damit zu tun, dass Transparenz und Nachvollziehbarkeit heute eine hohe Bedeutung haben, dass man Gerechtigkeit und Klarheit will -und auch, dass man sich nichts mehr gefallen lassen will. Und es hat auch ganz viel damit zu tun, dass Eigenverantwortung heute nur mehr ganz kleingeschrieben wird und für viele ein Fremdwort ist, und deswegen jede Eventualität ausgeschlossen werden muss.

Aber es ist nicht alleine das. Dass heute Gesetze und andere Vorschriften kaum mehr mit wenigen Absätzen auskommen, sondern zig Seiten in Anspruch nehmen, ist auch eine Folge davon, dass wir eine Gesellschaft geworden sind, in der es üblich geworden ist, jede Möglichkeit, die sich irgendwie ergibt, bis aufs Letzte auszureizen. Kein Schlupfloch bleibt ungenutzt, keine Möglichkeit, sich einen Vorteil zu verschaffen und etwas für sich herauszuholen.

Da nimmt nicht wunder, dass Gesetzgeber und Unternehmen Heerscharen von Juristen beschäftigen, die in immer komplexeren und komplizierteren Auflagen, Vorschriften und Texten alles daran setzen, möglichst alle Eventualitäten und Haftungen auszuschließen. Und Eventualitäten heißt in solchen Fällen oft auch Tricksereien. Denn auf der anderen Seite ist es kaum anders. Auch dort stehen Heerscharen von Juristen bereit, die genau diese weichen Stellen von Gesetzen, Vorschriften, Verträgen und all dem anderen, was wir als Papierkram und Last empfinden, zu finden versuchen.

Längst ist das in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Geschäftsmodell geworden für viele. Nicht nur irgendwo weit weg in der Politik und in der Wirtschaft. Das Muster ist um keinen Deut anders, wenn es bei einem Unfall darum geht, etwas zu finden, mit dem man etwas herausholen könnte oder -umgekehrt -Schadenersatz zu vermeiden. Wenn es darum geht, nach einem Kauf etwas zurückzufordern, weil man die Chance dafür sieht. Oder wenn man dem Nachbarn ans Zeug flicken will, weil der etwas tut, was einem nicht in den Kram passt.

Das alles hat auch damit zu tun, das heute Rechtsschutzversicherungen zum Standard gehören und damit allen Begehrlichkeiten, die man irgendwie durchsetzen will, Tür und Tor geöffnet sind. Kostet ja nichts.

Es ist wie ein permanenter Kampf, dem wir uns alle gerne hingeben und den wir selbst vorantreiben, weil wir so oft das Maß verloren haben. Auch weil wir heute einander grundsätzlich misstrauen. Und auch, weil wir bequem geworden sind. Und vor allem, weil man nicht zu kurz kommen und alle Möglichkeiten ausreizen will.

Daran zu denken, hilft vielleicht beim nächsten Mal, wenn wir an irgendwelchen Vorschriften und Auflagen zu verzweifeln drohen.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 22. Februar 2024

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