Donnerstag, 9. Juni 2016
Im Würgegriff
Im täglichen Schlagzeilengewitter ist es immer schwieriger, die Orientierung zu behalten. Da eine Horrormeldung und dort eine. Allerorten Bedenkenträger und Schwarzmaler. Überall hyperventilierende Aufgeregtheit. Meldungen werden lanciert, um Stimmungen zu erzeugen und um Interessen leichter durchzusetzen. Hauptsache schlecht, scheint oft die einzige Devise zu sein. Und Hauptsache gefährlich.
Ganze Branchen leben inzwischen von diesem Geschäft. Und nicht nur die Politik. Die NGO gehören dazu und Tausendschaften von Beratern, Medien sowieso und PR-Agenturen. In Österreich, in Deutschland, in Europa, weltweit. Zahlen und Fakten zählen immer weniger. Immer öfter werden sie zurechtgebogen und für die jeweiligen Interessen passend gemacht oder gleich völlig negiert und für falsch erklärt. Zwei plus zwei ist fünf.
Gerade in einem Land wie Österreich, in dem vielen ohnehin ein Hang zum Jammern und Fürchten eigen ist, ist die Gefahr groß, dass man sich leicht irre machen lässt. Zumal dann, wenn es eigene Vorurteile bestätigt und in den Kram passt. Wenn die Zeiten unübersichtlich sind. Wenn man gar nicht mehr zurechtkommt mit dem, was man alles wissen sollte. Wenn man niemandem und nichts mehr glauben und vertrauen mag und wenn man nicht zusammenbringen mag, was man zusammenbringen sollte. Die Schwarzmaler und die Kassandrarufer gewinnen in solchen Phasen die Oberhand. Und die Populisten, die die Stimmung noch zuspitzen mit ihrer Angstmacherei.
Ein Land, seine Gesellschaft, und, auf Europa umgelegt, ein ganzer Kontinent, zieht sich inzwischen selbst hinab. Da ist nichts mehr von Zuversicht und von Mut gar, etwas bewältigen zu können und mit etwas fertig zu werden. Da ist nur mehr von dunklen Wolken die Rede, von finsteren Mächten und von Entwicklungen, die nichts denn bedrohlich sind.
Im politischen und gesellschaftlichen Furor wird Erreichtes und Bestehendes gering geschätzt. Politische Bündnisse und Regeln, die mühsam und oft über Jahrhunderte errungen wurden genauso wie gesellschaftliche Veränderungen, technische und selbst medizinische Fortschritte. Zu tun, als ob alles nichts wäre, womit wir heute leben, was die Gesellschaft geschaffen hat und worauf man sich verständigt hat, also ob alles mehr Belastung ist als Fortschritt, ist zuweilen Kultur geworden.
Das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hat zu Beginn dieses Jahres in seinem Heft eine wöchentliche Kolumne eingerichtet, die sich genau mit diesem Thema beschäftigt. "Früher war alles besser" heißt sie. Das stimme aber nicht.
"Es war, im Gegenteil, früher so gut wie immer schlimmer." Man weist nach, dass schlicht falsch ist, dass, wie es gemeinhin heißt, die Industrieländer nur auf Kosten der Entwicklungsländer reich geworden und zeigt auf, dass der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, von 37 Prozent im Jahr 1990 auf zehn Prozent im Jahr 2015 abgenommen hat. Oder dass die Kinderarbeit seit dem Jahr 2000 um zwei Drittel reduziert werden konnte und dass der Höhepunkt des weltweiten Bevölkerungswachstums längst überschritten ist. Man zeigt auf, dass die Kindersterblichkeit deutlich reduziert werden konnte und die Alphabetisierungsrate seit 1960 weltweit von 60 auf 85 Prozent stieg. Und dass es weltweit noch nie so wenig Kriegstote gab wie in diesem Jahrhundert. Oder man beschäftigt sich mit der vielgescholtenen Technik. Etwa im Haushalt. Früher waren fürs Waschen, Kochen und Putzen pro Haushalt fast 60 Stunden wöchentlich nötig, viermal so viel wie heute. "Die gewonnene Zeit erlaubte den Frauen Bildung, Erwerbsarbeit, Unabhängigkeit", hält das deutsche Magazin fest.
Man sollte das alles nicht gering schätzen. Die Welt im Großen und Österreich im Kleinen sind vorangekommen. Ein gutes Stück sogar. Freilich liegt trotz aller Fortschritte vieles im Argen. Und es gibt überhaupt keinen Grund, die Hände in den Schoß zu legen und die Bemühungen ruhen zu lassen. Aber man sollte die Entwicklung sehen und sorgsam und umsichtig damit umgehen.
Das haben wir verlernt. Es ist verlorengegangen in den vergangenen Jahren, in denen die Zwischentöne verschwanden, in denen Fakten weniger zählen als Emotionen, in denen sich Populisten, Miesmacher, Ideologen, Panik- und Geschäftemacher die öffentliche Stimmung in den Griff genommen haben. Es ist ein Würgegriff, denn er bringt viel weniger für Weiterentwicklung und Fortschritt, als er zu Verunsicherung, Stillstand und Mutlosigkeit beiträgt.
Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 9. Juni 2016
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