Donnerstag, 30. Juni 2016

Unvorstellbares Unvorstellbares



Die Erschütterung ist groß. "Brexit", das Ja zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, hat Europa auf dem falschen Fuß erwischt. Brexit trifft die Union in einer Phase, in der die politischen Führer der großen Staaten allesamt in einer Schwächephase stecken, die sie in ihrem Handlungsspielraum einschränkt und in ihrer Position schwächt. Eine Bundeskanzlerin Angela Merkel, die noch vor ein, zwei Jahren die europäische Politik und die Union schier nach Belieben dominierte und die immer auch Zweiflern als Garant dafür galt, dass die Dinge gut ausgehen werden, hat derzeit nicht die Kraft, das Ruder an sich zu reißen. In Frankreich steht François Hollande mit dem Rücken zur Wand, in Italien hat Matteo Renzi längst seinen Glanz verloren und ist nicht erst seit der Wahl der Beppe-Grillo-Parteigängerin Virginia Raggi geschwächt. Und Spanien steckt in einer hartnäckigen Regierungskrise, die dem Land keine Zeit für Brüssel und Europa lässt. Die starken Regierungschefs, die in ihrem Land unumstritten sind und eine große Gefolgschaft haben, sind derzeit just jene, die dem EU-kritischen Lager zuzuzählen sind und denen das gemeinsame Europa weniger Herzensanliegen, als vielmehr finanzielles und die keine Hemmungen haben zu zündeln, wenn es ihnen nur hilft, daheim als stark dazustehen. Polen gehört dazu mit seiner Regierungschefin Beata Szydło und ihrem Mentor Jarosław Kaczynski. Und natürlich gehört auch Viktor Orbán dazu, der ungarische Ministerpräsident und manch anderer Chef von jungen Mitgliedstaaten auch.

Dazu kommt eine schwache EU-Führung. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erfüllt die in ihn gesetzten Erwartungen in keiner Weise und Ratspräsident Donald Tusk wirkt nicht nur wie sein Schüler, sondern wird zudem von der Regierung seinen Heimatlandes konterkariert. Auch der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schulz, erweist sich bislang als nichts denn als Papiertiger. Die EU-Spitzen wirken uninspiriert, ohne Ideen, ohne Charisma und, das vor allem, machtlos im losen Gefüge, zu dem viele Staatsund Regierungschefs die Europäische Union in den vergangenen Jahren gemacht haben. Zudem hat das Europäische Parlament bis heute seine Position und Rolle nicht gefunden.

Erst all das machte möglich, dass sich nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Ländern wie Frankreich, Holland und auch Österreich populistische und meist rechte Parteiführer in einer Weise ausbreiten konnten, die inzwischen zu einer echten Bedrohung für die Idee des gemeinsamen Europas geworden ist. Der Zulauf zu ihren Parteien scheint nicht zu bremsen. Und die Entscheidung der Briten zum Brexit scheint diese Entwicklung nur weiter zu beschleunigen und zu befördern.

Aber nicht nur die Führer der Rechtsparteien reiben sich angesichts der jüngsten Entwicklungen die Hände, auch in Moskau sieht man das Drama der EU wohl mit Wohlgefallen. Putin und seinen strategischen Plänen spielt die Entwicklung in die Hände. Dass die USA in diesen Monaten zwischen zwei Präsidentschaften stehen und ohne großes Gewicht sind, tut das Seinige dazu.

Dass dieses Umfeld eine Konstellation ist, in der die Erneuerung der Europäischen Union tatsächlich umgesetzt, wie sie jetzt von vielen Seiten gefordert wird, und dasss die grassierende Renationalisierung gestoppt werden kann, ist wohl zu bezweifeln.

Europa ist zerrissen. Während sich die einen freuen und Brexit als den Anfang vom Ende der EU, die sie als Knechtschaft empfinden, und als Start der Befreiung feiern, ohne zu wissen, was jetzt wirklich kommt, machen sich andere Sorgen. Ihre Erschütterung ist groß. Der Facebook-Post von Willi Klinger, dem umtriebigen Chef des österreichischen Weinmarketing, am Morgen nach der Entscheidung zählt zum Eindrücklichsten, was in diesen Tagen in den Social Media zu lesen war. "Brexit kommt von 'brechen'. Das ist der schwärzeste Tag für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg", schreibt er. "Die dunklen Mächte des Nationalismus, die die Welt zweimal mit Millionen Toten zurückgelassen haben, sind wieder obenauf. Für mich persönlich bricht eine Welt zusammen. Ich werde mich jetzt mit aller Kraft der Rettung des europäischen Friedensgedankens widmen und fordere Euch alle auf, Euch voll zu engagieren, denn es droht Gefahr: Dominoeffekt, neue Finanzkrise, Renationalisierung, Krieg, ja Krieg am Horizont!"

Man kann sich nur wünschen, dass er mit seinen Befürchtungen nicht recht hat.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 30. Juni 2016

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