Donnerstag, 4. August 2022

Zerfetzte Träumereien

Die Züge sind überfüllt, wie man es nie kannte. Auf den internationalen Flughäfen herrscht Chaos, wie man es nie für möglich hielt. Und in diesen Wochen sind die Berichte und Warnungen der Verkehrsdienste von den überfüllten Autobahnen im Radio lang wie nie zuvor. In den Sozialen Medien ist der Ton gehässig wie eh und je, in der Politik ist es auch nicht anders. Wie es dem Nachbarn geht, ist den meisten Menschen egal, wie es immer war. In der Wirtschaft machen sich längst Rezessionsängste breit und Sorgen um die Zukunft. Atomkraft und Kohlekraftwerke feiern fröhliche Urständ. Und selbst die grünsten Grünen schicken heute wieder ohne Genierer "liegrü", wie man in diesen Kreisen "Liebe Grüße" abkürzt, aus Sardinen. Mit dem Fahrrad werden wohl auch sie nicht dorthin gekommen sein.

Zweieinhalb Jahre nach Ausbruch der Pandemie ist nichts mehr übrig von der "neuen Welt", die nicht nur von notorischen Romantikern herbeigeträumt wurde, als sich Corona breitmachte und das öffentliche Leben zum Stillstand kam. Nichts von einer neuen Bescheidenheit, nichts von der Chance für die Umwelt, die es zu nützen gelte. Und nichts von einer großen Wende im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, nichts von einer Besinnung auf Werte und eine Verlangsamung des zuweilen absurden Lebens-Tempos, die die Pandemie bringen sollte, wie vor zwei Jahren Zukunftsforscher wie Matthias Horx meinten. "Nach einer ersten Schockstarre fühlten sich viele sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam", schrieb Horx damals in einem viel beachteten Manifest unter dem Eindruck der ersten Pandemiewochen, als am Himmel die Kondensstreifen und auf den Autobahnen die Autos verschwunden waren und die ersten Lockdowns und die Zeit, die man auf einmal hatte, eine neue Heimeligkeit in Aussicht stellten. "Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an", schrieben Horx und Konsorten. "Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie 'Zusammenbruch' tatsächlich passiert", tönte Horx.

Freilich hätte der Welt und der Gesellschaft vieles von dem, was damals in die neue Situation hineininterpretiert wurde, gut getan. Geblieben ist nur wenig. Ganz wenig. Und selbst mit dem ist man -man denke nur an das Homeoffice - nur selten wirklich glücklich.

Das Leben ist anders. Und es kam ganz anders, als man damals meinen mochte. Man erinnere sich nur daran, wie der damalige Gesundheitsminister Rudi Anschober abmontiert wurde. Oder an den Ton, den die Corona-Leugner zunächst in der öffentlichen Diskussion und dann in den Demonstrationen im ganzen Land anschlugen. Da war nichts von einer "gesellschaftlichen Höflichkeit", die ansteigt, und schon gar nichts davon, dass "gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten" wichtiger sind als Vermögen, wie Horx meinte. Viel mehr legte die Pandemie Gräben offen, schürte Vorurteile und Ängste und trieb die Gesellschaft zuweilen an Grenzen, die man nie für möglich hielt. Und da muss man nicht erst auf den Suizid der Ärztin in Oberösterreich verweisen.

Dass seit einem halben Jahr der Krieg gegen die Ukraine die Folgen der Pandemie überlagert, tut das Seinige dazu. Leichter ist es dadurch nicht geworden. Ganz im Gegenteil. Der Druck wurde enorm erhöht, sich freizumachen von den Abhängigkeiten, in denen man es sich in den vergangenen Jahren bequem gemacht hatte. Und da ist noch gar nicht die Rede von der Abhängigkeit von russischem Gas und den Energiepreisen und auch nicht von der damit einhergehenden galoppierenden Inflation, die viele Pläne und Träume, wie die Welt und die Umwelt zu retten seien, wie Seifenblasen zerplatzen ließen.

Die Einschätzungen von damals, zu Beginn der Pandemie, nehmen sich vor diesem Hintergrund bitter aus. Längst ist das Pendel dabei, in die Gegenrichtung auszuschlagen. Auch, weil die Pandemie ganz anders wirkte, als manche zu Beginn erwartet haben. Und auch, weil wir in Europa Krieg haben. Die "neue Welt", von der die Rede war, scheint noch viel älter zu sein als die alte Welt, die man zu überwinden glaubte. Flug-und Verkehrswahnsinn, Kohlekraftwerke und Atomkraftwerke und Krieg inklusive.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 4. August 2022

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