Donnerstag, 14. April 2022

"Narrenfreiheit" mitten unter uns

"Ich muss das mit euch teilen, weil es mich fassungslos macht, so einer lebt mitten unter uns und hat auch noch reichlich Publikum", beginnt die WhatsApp-Nachricht samt Link auf eine Facebook-Seite an einen kleinen Freundeskreis. "Ich weiß nicht, ob Menschen in Butscha von russischen Soldaten barbarisch ermordet wurden oder ob die Geschichte über hingemetzelte Zivilisten ein eiskalter Propagandaschwindel ist. Und ja -ich traue das beiden Seiten zu", steht da zu lesen. "Ich kenne viele Menschen, die jetzt Angst haben davor, dass der amerikanisch/europäische Mainstream Europa in einen Weltkrieg hetzt". Von der "geballten Macht der Sorosmedien" ist die Rede und von einem "angeblichen" Massaker an der Zivilbevölkerung von Butscha, das gerade zum "Sarajevo 2.0 hochgepusht" werde von den "Redaktionen der Tastaturnutten".

Die erste Antwort kam prompt. "Hat schon auch Vorteile, wenn man den Facebook-Schei nicht hat."

Es wird wohl viele solcher Dialoge unter Freunden und unter Bekannten geben in diesen Wochen. So wie in den Monaten zuvor, als es um Corona ging, um die Impfung und die Impfpflicht.

Man schaut nicht mehr hin, man blockt ab, man will von den Ungeheuerlichkeiten, den Dummheiten, den Anmaßungen nichts mehr hören. Man hat genug davon. Wir haben uns daran gewöhnt, dass ein Riss durch die Gesellschaft geht und dass man nicht mehr miteinander reden kann. Längst vorbei sind die Versuche es zu tun, längst hat jeder seine eigenen Methoden entwickelt, mit nahestehenden Menschen und mit langjährigen Freunden doch irgendwie zurechtzukommen. Meist ist es, das Thema möglichst gar nicht zu streifen. Zuerst nicht Corona und Impfung, jetzt ist es der Ukraine-Krieg. Es ist wohl kein Zufall, dass es sehr oft dieselben Leute sind.

Die Lage ist so verstörend wie beunruhigend. Längst ist diese Spaltung der öffentlichen Meinung, sind diese Risse von gesellschaftlicher und politischer Relevanz. Die Frage ist, ob man es sich leisten kann, die Dinge einfach laufen zu lassen, sich damit abzufinden, dass ganze Teile unserer Gesellschaft einfach nicht miteinander reden können, dass sie oft gar kein Verständnis haben füreinander und oft sogar nichts als Verachtung. Kann man mit diesem Thema wirklich so umgehen, wie wir damit umgehen, und können wir es uns leisten, es einfach auf die lange Bank zu schieben und drauf zu hoffen, dass sich das nach Ende der Pandemie oder nach Ende des Ukraine-Krieges wieder von selbst beruhigt?

Kann es sein, dass diese Gruppe von Schwurblern, in der sich viel Neid und Hass aufgebaut hat, in der Verschwörungstheorien verbreitet werden, die mit dem Staat nichts mehr anfangen können und sich nirgendwo vertreten und immer missverstanden fühlen, wirklich niemand kümmert? Dass man sie unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit gewähren lässt, bloß weil man sie nicht mehr erreicht und ansprechen kann? Dass eine Gruppe unserer Gesellschaft so etwas wie "Narrenfreiheit" hat, und dass sich niemand mehr kümmern mag darum, was man in dieser Blase denkt, redet und plant?

Fragen über Fragen, die nach Antworten verlangen. Abzuwarten und nur zu hoffen ist zu wenig. Dazu ist die gesellschaftliche Relevanz bereits zu groß und die politische Relevanz ist dabei, zu groß zu werden. Die MFG ist die Partei gewordene Schwurblerpartie und erzielt, wo immer sie antritt, beachtliche Erfolge. Die etablierten Parteien stehen ihr hilflos gegenüber. Bis auf eine -die FPÖ. Die ist nicht bereit, Platz an die Neuen herzugeben. Mit allen Folgen für das politische Klima und die politische Kultur im Land, aber ganz sicher nicht für irgendetwas, was man als Verbesserung empfinden könnte.

Wir sind dabei, an diesen Entwicklungen und an den Problemen, die sie mit sich bringen, zu scheitern. Die Politik voran, aber auch all die Legionen von Kommunikationswissenschaftlern, PR-Gurus, Psychologen und all die anderen, die sich eigentlich auf das Miteinander-Reden, das Überzeugen mit Argumenten, das Beeinflussen von Meinungen verstehen sollten. Sie bringen nichts zusammen. Gar nichts.

Genauso wenig wie wir selbst, wenn uns der Freund, der Schwurbler, oder die Freundin, die Schwurblerin, gegenüberstehen und von Bill Gates, Chipping und Weltherrschaft schwadronieren und vom "großen amerikanischen Plan", die ganze Welt in der Ukraine in einen Krieg zu treiben.

Das alles kann nicht sein. Schon gar nicht kann sein, dass man das offenbar akzeptiert hat.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 14. April 2022

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