Donnerstag, 20. Oktober 2022

Vorwärts zurück?

Der gemeine österreichische Medienkonsument ist verdutzt in diesen Tagen und dazu geneigt, sich verwundert die Augen zu reiben. Da wird in den Zeitungen und im Fernsehen der ehemalige Kanzler Kurz rauf und runter interviewt. Und da scheut sein Vorgänger Kern seit Monaten keine Fotografen, schon gar nicht, wenn es um Fotos mit dem neuen Shooting-Star der Szene, Marco Pogo alias Dominik Wlazny, geht. Was wollen die Herren? Ist da was? Haben wir wieder 2015/16? Dreht sich das Land und die Politik zurück?

Was bei den beiden genannten Herren weniger zu befürchten ist, ist es angesichts der Bilder von den flugs aufgebauten Zelten für die Geflüchteten umso mehr. "Monumente des Versagens" nannten sie Kritiker und "Totalversagen", und betroffene Bürgermeister stellten umgehend Autobahnblockaden in Aussicht, während sich die Freiheitlichen freuen, wie man ihnen wieder in die Hände spielt und Wähler zutreibt. Alles wie damals 2015/2016. Als ob nicht sechs, sieben Jahre seither vergangen wären und als ob man nichts gelernt und zusammengebracht hätte. Die Fortschritte dürften in der Tat sehr überschaubar gewesen sein, nicht viel mehr als hohle Phrasen um das Publikum ruhig zu halten, ohne aber in der Sache sowohl national und schon gar nicht auf europäischer Ebene wirklich vorangekommen zu sein.

Die neue Krise rund um die Geflüchteten und die Aufregung sind typisch österreichisch. Aufschieben, wird schon werden und ist eh nicht so schlimm -aussitzen eben, wie man es kennt. Alles nur kein Fortschritt. Irgendwann freilich wird man von der Wirklichkeit eingeholt. Immer.

Die Geschichte der österreichischen Politik ist voll davon. Erst jüngst schlug, im Zusammenhang mit dem Budget, wieder die Finanzierung des Pensionssystems auf. "Wir versenken fast die gesamten Lohnsteuereinnahmen im Pensionsloch", ätzte Agenda Austria-Chef Franz Schellhorn wieder einmal spitzzüngig und scharf. 17 Milliarden Euro nehme die Regierung an neuen Schulden auf, das liege auch an den steigenden Pensionsausgaben.

In einer Krise, wie wir sie jetzt zu meistern haben, und wie sie wohl noch lange andauern wird, ist das pures Gift. Die Staatsschulden sind hoch wie noch nie zuvor. Sie wieder zumindest einigermaßen in den Griff zu kriegen, wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern. Im wahrsten Sinn ein "Budget für Generationen", wie es "Die Presse" nannte. Eine Last für Generationen war wohl gemeint damit.

Aber wir sind dabei, uns daran zu gewöhnen. "Lieber ein paar Feuerlöscher zu viel als einen Flächenbrand", sagt der Finanzminister zu seinem Erstlingswerk und formuliert, was seit dem denkwürdigen "Koste es, was es wolle" von seinerzeit zur Maxime geworden zu sein scheint. Geld spielt keine Rolle.

Auf das Anpassen, auf das Reagieren, auf das Nachjustieren und Stellen von Weichen scheint man auch in diesem Fall wieder vergessen zu haben. All das kann auf der langen Bank, auf die es geschoben wird, warten. Nicht einmal auf mehr Treffsicherheit von Maßnahmen und Förderungen mag man pochen. Und schon gar nicht auf Einsparungen. Es herrscht ja Krise, und selbst da will man keinen möglichen Applaus auslassen.

Auch wenn das Budget für den Wegfall der kalten Progression und für die Valorisierung der Sozialleistungen zu loben ist, darf man den Handlungsbedarf, der dadurch eher sogar noch verschärft wurde, nicht übersehen. Aber auch dieser Handlungsbedarf ist nicht neu, sondern wurde schon damals, als die eingangs angeführten Herren das Ruder in der heimischen Politik in der Hand hielten, in jedem besseren Kommentar eingemahnt.

Der Fortschritt ist also auch hier überschaubar. Das mag auch mit dem Lauf der Dinge zu tun haben, den die Politik nach dem Abtreten der ehemaligen Kanzler Kurz und Kern genommen hat, respektive der durch ihr Handeln verursacht wurde.

Ihr Rückzug, der des einen wie der des anderen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, war kein geordneter. Und man kann streiten darüber, ob ihre Regierungszeit damals eine gute war. Man kann aber kaum streiten darüber, dass die politische Führung des Landes seither eher eine von Notlösungen geprägte war. Freilich eine ohne Alternative. Denn die Opposition, oder auch nur Teile von ihr, sind das ganz sicher nicht. Sie ergeht sich ungeachtet der Anforderungen in populistischer Kleinkariertheit und lässt jede Perspektive und Linie, zumal große und überzeugende, vermissen, die eine Alternative zu den bestehenden Verhältnissen sein könnte.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 20. Oktober 2022

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