Donnerstag, 22. Juli 2021

Ein Land in Geiselhaft

Die Coronakrise scheint wieder aus dem Ruder zu laufen. Auch wenn der Kanzler die Pandemie mehr oder weniger für beendet erklärt und zur Privatsache gemacht hat. Die Zahlen steigen wieder, die Nervosität schwillt wieder an und Politiker, vornehmlich jene, die aus einer möglichst raschen Öffnung und Lockerung politisches Kapital schlagen wollten, bekommen Erklärungsbedarf.

Wir scheinen -man kennt das aus dem vorigen Sommer - wieder in der Phase zu sein, in der man allerorten versucht, den Anstieg der Zahlen kleinzureden. Man will sich die Versprechen vom schönen Sommer nicht vermiesen lassen und schon gar nicht an den Herbst denken. Dabei werden die Warnungen vor einer vierten Welle immer dringlicher. Davor, dass sich die Kinder und Lehrer in den Schulen wieder auf Einschränkungen einstellen müssen, dass Zugangsbeschränkungen und Maskenpflicht generell wieder verschärft werden müssen und vielleicht auch auf Gastronomie und Tourismus wieder Beschränkungen zukommen. Sogar ein neuer Lockdown wird für möglich gehalten.

Verantwortlich dafür ist freilich, nach einigermaßen einhelliger Einschätzung aller Experten, nicht allein die Politik. Das hat auch damit zu tun, dass sich so viele Menschen weigern, sich impfen zu lassen und damit die gesamte Gesellschaft inklusive Wirtschaft gleichsam in Geiselhaft nehmen. Die Headline der aktuellen Titelgeschichte des deutschen Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" beschreibt treffend, was immer größere Probleme macht. "Impfen? Irgendwann. Vielleicht" spiegelt die Stimmung wider, die in den vergangenen Monaten um sich gegriffen hat bei vielen Menschen, die sich eine Impfung zwar grundsätzlich vorstellen können, sie aber aus welchen Gründen auch immer auf die lange Bank schieben.

Sie, und nicht die Hardcore-Impfverweigerer, bei denen ohnehin nichts zu gewinnen ist, sind die eigentliche Herausforderung für die Politik. Sie sind es, die gewonnen werden müssen, um auf die 80,85 Prozent Durchimpfungsrate zu kommen, die für notwendig gehalten wird, um die Pandemie wirklich zu brechen. Diese Menschen sind es, die überzeugt werden müssen von der Notwendigkeit, impfen zu gehen, und davon, dass es gerade auf sie ankommt. Da braucht es eine nationale Kraftanstrengung.

Die Erfolge bei diesen Bemühungen sind freilich bisher sehr überschaubar. Das hat Gründe. Die Werbung für die Impfung zeigt kaum Wirkung. Und die Argumente dafür erst recht. Nirgendwo ist die Dringlichkeit des Anliegens wirklich spürbar, kaum wo gibt es Allianzen, um die Zögerer und die Bequemen umzustimmen und zu mobilisieren. Es fehlen Anreize etwa in Form von deutlich spür-und sichtbaren Vorteilen, der Unterschied in der Behandlung Geimpfter und Nichtgeimpfter ist zu wenig zu spüren. Warum also soll sich dann einer impfen lassen, der zögert? Noch dazu, wo die Tests bezahlt werden und man damit ohnehin mit Geimpften (und Genesenen) gleichgestellt ist.

Das Land drückt sich um diese Diskussion und das ist schädlich für den durchschlagenden Erfolg im Ringen mit der Pandemie, die uns nun schon seit eineinhalb Jahren lähmt und Milliarden kostet. Dazu gehört auch die Diskussion über eine Impfpflicht, die mittlerweile immer lauter gefordert wird und die vieles für sich, aber auch vieles gegen sich hat.

Es ist nachzuvollziehen, wenn Experten wie Medizinethiker und Theologe Ulrich Körtner sagen: "Wenn wir nicht wieder Einschränkungen, Kontaktverbote und Lockdowns riskieren wollen, wird an der Impfung kein Weg vorbeigehen." Das Grundrecht, sich nicht impfen zu lassen, müsse gegen andere Grundrechte abgewogen werden, das Verhalten des Einzelnen sei dort begrenzt, wo andere in ihren Freiheiten und Grundrechten beschränkt werden. "Viele pochen auf ihr Recht auf Selbstbestimmung und vergessen dabei, dass sie auch Plichten haben."

Demgegenüber warnen Impfpflicht-Skeptiker davor, dass angesichts der aufgeheizten Lage eine Impfpflicht den sozialen Frieden gefährden und kontraproduktiv wirken könnte. Und es ist nachvollziehbar, wenn etwa der Moraltheologe und Medizinethiker Johann Platzer sagt, das Recht auf Selbstbestimmung überwiege so lange, solange medizinische Unklarheiten wie etwa die langfristigen Auswirkungen der Impfstoffe oder eine mögliche Ansteckung trotz Impfung nicht geklärt sind.

Diesen Themen und diesen Aufgaben muss sich die Politik stellen, ehe es zu spät ist. Und wenn das noch so mühsam wird und keine Stimmen bringt.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 22. Juli 2021

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

 
UA-12584698-1