Donnerstag, 7. November 2019

Familienrealität wird zur Koalition



Die Diskussion um eine türkis-grüne Zukunft dieses Landes nimmt Fahrt auf. Allerorten werden Einschätzungen ventiliert und Möglichkeiten ausgelotet. Es mangelt nicht an Ratschlägen. Und auch nicht an Überraschungen. Etwa wenn die stellvertretende Klubobfrau Sigi Maurer, vielen in der ÖVP die Lieblingsfeindin, den Türkisen bescheinigt "viel heterogener" zu sein, als oft angenommen und sie erklärt, dass man Kurz schon vertrauen könne. Das macht Staunen. Aber sie sagt ja auch nonchalant, "jetzt ist nicht mehr Wahlkampf".

Die Grünen scheinen sich mit der neuen Situation und den Möglichkeiten, die sie bietet, leichter zu tun als die ÖVP respektive deren Fußvolk. Dort halten sich hartnäckig die Vorbehalte, die sich über die Jahre gegenüber den Grünen, insbesondere ihrem Wiener Teil, aufgebaut haben und scheinen sich gar zu verfestigen. Die Sorgen wachsen dort eher als dass sie schwinden, zumal man spürt, dass alle Alternativen zu den Grünen in den vergangenen Wochen abhandengekommen sind. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass ihnen die SP und insbesondere die FP, die vielen -lässt man ihren derzeitigen Zustand außer Acht -näher steht, aber angesichts der Kalamitäten, in denen sie stecken, nicht in Frage kommen.

Dass eine Koalition der Volkspartei mit den Grünen das Land so bewegt, hat nicht nur Gründe darin, dass ihre politischen Ansichten zuweilen diametral auseinanderklaffen. Dass sie auf einen Nenner gebracht werden, können sich viele nicht vorstellen. Schon gar nicht, dass das ohne gravierende Gesichtsverluste auf der einen oder auf der anderen Seite abgeht.

Aber auch ein anderer Grund spielt möglicherweise eine nicht unbedeutende Rolle dabei, dass das Vorankommen der Gespräche sehr interessiert verfolgt wird. Denn eine türkis-grüne Koalition wäre für viele in diesem Land das Nachvollziehen der Lebensrealität in den Familien. August Wöginger, vormaliger Klubchef der Türkisen, erntete zwar im Sommer viel Häme für den Satz "Es kann ja nicht sein, dass unsere Kinder nach 'Wean' fahren und als Grüne zurückkommen", traf damit aber einen Punkt, der viele türkise Parteigänger und Wähler und auch Grüne mehr beschäftigt, als sie zugeben mögen, weil sie den Gegensatz familienintern oft nicht aufzulösen vermögen. In vielen Familien - und nicht nur auf dem Land - wählen die Eltern türkis und schätzen Kurz, während die Jungen noch nie etwas anderes als grün gewählt haben und für Kurz oft nichts als Verachtung hegen.

Auch sie müssen miteinander auskommen, auch wenn es mitunter schwierig ist. Und sie tun es auch. Meistens zumindest. So, wie das auch in einer türkis-grünen Koalition möglich sein könnte. Das Gelingen einer türkis-grünen Koalition würde wohl in vielen Familien, die sich in solchen Konstellationen reiben, möglicherweise vielleicht sogar ein Modell bieten, um die Gräben am Familientisch zu überwinden. Allein schon deshalb, weil sich jeder auf seine bevorzugte Partei berufen kann und sich dennoch vom anderen zumindest geduldet weiß. 

Abgesehen davon -der Druck wächst auf allen Seiten. Und wird in den kommenden Wochen noch weiter wachsen. Auch, weil die Zurufe immer mehr werden. Anton Pelinka, der Politik-Professor der Nation, schrieb kürzlich im "Profil" einen offenen Brief an Werner Kogler, in dem er fragt, ob der Eindruck stimme, dass die Grünen ernsthaft glauben könnten, das der "Lohn des mühsamen Aufstiegs nun die Rolle des Juniorpartners von Sebastian Kurz ist". Wenige Zeilen danach findet sich der Satz "Es gibt jeden Grund, dass Kurz für eine Koalition mit Ihnen einen hohen politischen Preis zu zahlen hat", zumal er ja keine Alternative mehr hätte, mit der er Kogler in die Pflicht zu nehmen versucht. 

Auf der anderen Seite hingegen werden die Stimmen lauter, die auf die Stimmenverhältnisse pochen. Sie wollen sich nicht von den 13,9 Prozent beeindrucken lassen, die die Grünen bei den Wahlen erzielten und als großen Sieg feierten, sondern halten die 37,5 Prozent, die die Türkisen bekamen, für das, woran sich die Gespräche zu orientieren haben. "Wir sind es, die gewonnen haben", sagen sie. Und das wollen sie auch entsprechend abgebildet sehen in einem Regierungsprogramm. 


Das garantiert nicht nur für spannende Wochen, die da vor uns liegen, sondern verlangt auch viel Verständnis. Auf beiden Seiten.


Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 7. November 2019

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