Donnerstag, 1. Oktober 2020

Einäugiges Empörium

In Minsk und in anderen Städten Weißrusslands waren am vergangenen Wochenende wieder Hunderttausende auf den Straßen, um gegen den weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu demonstrieren. Wieder wurden, wie schon in den Wochen zuvor, Demonstranten von den Schergen des Präsidenten geprügelt und in Lieferwagen gezerrt. Polizisten mit Helmen und Schildern, die wahllos auf Demo-Teilnehmer einschlugen. Zivile Vasallen Lukaschenkos, die ihre Gesichter hinter Covid-Masken verbergen. Die oft einfach Frauen und Männer im Vorbeigehen schnappen, sie in Autos hineindrücken und mit ihnen davonfahren. Seit Wochen liefern die Medien solche Bilder der Gewalt.


Im Westen zeigt man sich betroffen. Das aber ist schon alles. Diplomatische Protestnoten. Große Berichte, erschütternde Bilder. Aber niemand rührt sich. Niemand ruft zu Solidarität mit der Protestbewegung in Weißrussland auf. Niemand startete irgendeine Aktion. Nicht als die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja aus dem Land verjagt wurde. Und auch nicht, als Maryja Kalesnikawa verschleppt und nach einer Odyssee an die ukrainische Grenze in einem weißrussischen Gefängnis verschwand.

Es gab keine Demonstrationen, keine Solidaritätskundgebungen. Nicht einmal Solidaritätsadressen. Im Sommer noch ging man überall auf die Straßen, um gegen den Rassismus in den USA zu demonstrieren. "Black lives matter" mobilisierte die Menschen nicht nur in den USA, sondern vor allem auch in Europa. Menschenrechtler, Frauenrechtler, Rote, Grüne vor allem. Linke, als die man sie gemeinhin ihrer politischen Grundeinstellung wegen zusammenfasst.

Alles zu Recht, alles in Ordnung, alles nicht hoch genug anzurechnen und notwendig, zumal bei der Nicht-Linken Gleichgültigkeit die Grundstimmung ist, sofern es nicht gegen Ausländer, Islam und alles vermeintlich Linke geht. Dennoch drängt sich die Frage auf, warum rührt sich keiner von denen, die noch lautstark und voller Betroffenheit für "Black lives matter" auf die Straße gingen, wegen Weißrussland? Ein Land praktisch in unserer Nachbarschaft. Warum rührt sich keiner von denen wegen dem russischen Regimekritiker Alexei Nawalny? Warum schaut man zu, wie China das Volk der Uiguren in Straf-und Umerziehungslager steckt und nun auch nach den Tibetern greift? Warum ging niemand in Europa auf die Straßen, als Peking Hongkong einkassierte?

Es fällt schon lange auf, dass all die, die Haltung und Protest für ihre Pflicht halten und die dafür auch gerne auf die Straße gehen, wohl auf einem Auge blind sind. Denn all das Protestpotenzial entlädt sich offenbar nur, wenn es um die USA und die westliche Welt geht, die man unter US-amerikanischem Einfluss wähnt. All das aber gilt bemerkenswerterweise nicht für alles, was in der Welt geschieht, das seine Wurzeln in totalitären Regimen mit kommunistischem Hintergrund hat. Gegen Putin auf die Straße gehen? Gegen Xi Jinping? Niemals! Gegen Trump? Gegen Macron? Gegen Merkel? Bei jeder Gelegenheit! Im Rollstuhl, im Pyjama, bei jedem Wetter und mit Kind und Kegel. Jederzeit. Ist doch Ehrensache und wichtig.

Dieses Muster gilt nicht nur für die Politik, sondern auch, wenn es um die Umwelt geht. China und Russland sind immer außen vor, wie unsere deutschen Nachbarn sagen würden, wenn es um Umweltsünden, um CO2 und um den Klimawandel geht. Das Muster gilt auch bei Frauenfragen, wenn es um den internationalen Frieden geht, um soziale Standards und um vieles andere auch.

"Die Empörung ist ganz schön selektiv", war kürzlich in einer Analyse einer Tageszeitung zu lesen. Das will man offensichtlich nicht erkennen. Da darf man sich freilich nicht wundern, dass viele diese Einäugigkeit längst als lächerlich empfinden.

Diese Einäugigkeit ist freilich nicht alleine auf Reaktionen auf internationale Vorgänge beschränkt. Das Messen mit zweierlei Maß kennt man auch, wenn es um die kleine politische Welt in Österreich geht. Es sei nur erinnert an den Tiroler SP-Chef, in dessen unversperrtem Porsche ganz offen ein geladenes Gewehr lag. Alles halb so wild. Oder an die Proteste gegen den Vortrag eines rechten Uniprofessors im Herbst des Vorjahres. Meinungsfreiheit? Aber geh!

"Linke dürfen das", schrieben die "Salzburger Nachrichten" damals in einer Glosse spitz. So sind sie offenbar eben.

Meine Meinung - Raiffeisenzeitung, 1. Oktober 2020

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